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Grundschulen im Harz unter Druck: Lehrermangel erzwingt Klassenfusionen und Strukturwandel

Wernigerode, 18. Juni 2025, 09:00 Uhr

In mehreren Grundschulen im Harz greift die Schulverwaltung zu drastischen Maßnahmen: Klassen werden zusammengelegt, Kinder auf andere Schulen verteilt, Förderstunden gestrichen. Hintergrund ist ein akuter Lehrermangel, der nicht nur den Landkreis Harz, sondern das gesamte Bundesland Sachsen-Anhalt betrifft. Eltern, Lehrkräfte und Bildungsexperten schlagen Alarm – die Notlösungen könnten langfristige Folgen für die Bildungsqualität nach sich ziehen.

Sieben Klassen aufgelöst – ein drastisches Signal

Mit Beginn des Schuljahres 2024/25 wurden im Harz sieben Grundschulklassen dauerhaft geschlossen. Sechs von 43 Grundschulen im Landkreis sind direkt betroffen. Die betroffenen Kinder mussten in andere Klassen oder sogar in benachbarte Schulen wechseln – oft mit langen Fahrtwegen und verringerten Betreuungszeiten. Für viele Familien war dies ein Schock. Eltern berichten von überfüllten Klassenzimmern, unzufriedenen Kindern und zunehmendem Stress unter Lehrkräften.

„Mein Sohn ist jetzt in einer Klasse mit 29 Kindern. Vorher waren es 21. Er kommt nicht mehr zu Wort und hat zunehmend Angst, Fehler zu machen“.

Die Situation ist kein Einzelfall. Landesweit liegt die Unterrichtsversorgung im Schuljahr 2024/25 bei nur noch etwa 94–95 %. Das Bildungsministerium hatte ursprünglich eine Versorgung von über 103 % angestrebt, um Ausfälle abzufangen. Doch diese Zielmarke scheint aktuell außer Reichweite.

Ursachen: Krankheit, Rente, fehlender Nachwuchs

Die Ursachen für den Mangel sind vielfältig. Im Landkreis Harz fielen allein 93 Lehrkräfte durch Krankheit, Elternzeit oder Mutterschutz aus. Hinzu kommt eine massive Pensionierungswelle: Über 57 % der Lehrkräfte in Sachsen-Anhalt sind über 50 Jahre alt – bundesweit liegt dieser Anteil nur bei 36 %. Bis 2035 werden etwa zwei Drittel der heutigen Lehrkräfte in Rente gehen. Das bedeutet, dass jährlich rund 9.000 neue Lehrerinnen und Lehrer benötigt würden, um den Bedarf zu decken – eine Zahl, die derzeit völlig unrealistisch erscheint.

Die Folge ist ein systematischer Unterrichtsausfall. Im Vorjahr fielen in Sachsen-Anhalt knapp 700.000 Unterrichtsstunden ersatzlos aus – das entspricht etwa 6 % des gesamten Unterrichts. Besonders betroffen sind Grund- und Förderschulen sowie Gesamtschulen, in denen häufig keine Reserven vorhanden sind.

Zwischenlösungen mit Risiko: Quereinsteiger und Vorgriffsstunde

Um der Lage kurzfristig zu begegnen, greifen Schulbehörden auf sogenannte Seiteneinsteiger zurück – also Personen ohne reguläres Lehramtsstudium. Bundesweit liegt ihr Anteil inzwischen bei über 10 %. In Sachsen-Anhalt machen sie bereits rund 15 % des Lehrpersonals aus. Diese Quereinsteiger werden meist gezielt auf Fächer wie Deutsch, Mathematik oder Sachkunde geschult und durch Mentoren begleitet.

Darüber hinaus wurde die sogenannte „Vorgriffsstunde“ eingeführt: Lehrkräfte müssen eine zusätzliche Stunde pro Woche unterrichten. Dadurch konnte kurzfristig eine rechnerische Verbesserung der Unterrichtsversorgung auf rund 95 % erreicht werden. Die Maßnahme ist allerdings umstritten – Gewerkschaften sprechen von einer „Zwangsmaßnahme“ und befürchten langfristige Überlastung und Burnout.

Maßnahmen zur Kompensation im Überblick:

MaßnahmeZielKritikpunkte
Vorgriffsstunde+1 Std. pro Lehrkraft zur Steigerung der VersorgungMehrbelastung, Erschöpfung, rechtliche Grauzone
Seiteneinsteiger (Quereinsteiger)Schnelle PersonalaufstockungGeringere pädagogische Ausbildung
Stellen für „pädagogische Unterrichtshilfen“Entlastung von Lehrkräften bei Verwaltung & AufsichtBegrenzte Einsatzmöglichkeiten, Ausbildungslücken

Elternproteste und zivilgesellschaftlicher Druck

Die Reaktionen aus der Bevölkerung lassen nicht auf sich warten. In Sachsen-Anhalt wurden mehrere Petitionen gestartet, darunter eine mit über 13.500 Unterschriften, die sich gegen die Auflösung von Förderstunden und die Überfüllung von Klassen wendet. Auch über 100 Schulleitungen formulierten einen offenen Brief an das Bildungsministerium und warnten vor den Folgen der aktuellen Entwicklung – insbesondere für sozial benachteiligte Kinder und jene mit Förderbedarf.

„Die Kürzungen treffen genau die Schwächsten. Ohne gezielte Förderung verlieren diese Kinder endgültig den Anschluss“, heißt es in dem Schreiben.

Langfristige Strategien: Neue Wege für den ländlichen Raum

Insbesondere der ländliche Raum wie der Harz leidet unter der strukturellen Benachteiligung bei der Personalverteilung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurden verschiedene Anreizsysteme entwickelt. Sachsen-Anhalt bietet z. B. das „Weltenretter-Stipendium“ – ein Förderprogramm für Lehramtsstudierende, die sich verpflichten, nach dem Studium in einer Bedarfsregion wie dem Harz zu arbeiten. Ähnliche Programme mit Umzugsbeihilfen und Einstiegsboni gibt es auch in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Thüringen.

Internationale Modelle: Fernlehre und digitale Kooperation

Ein Blick ins Ausland zeigt interessante Alternativen. In China etwa werden ländliche Schulen über sogenannte Remote-Co-Teaching-Modelle entlastet: Stadtlehrer unterrichten digital gemeinsam mit lokalen Kräften. Diese Tandemlösungen ermöglichen ein höheres fachliches Niveau bei gleichzeitiger lokaler Betreuung. Auch in Kanada und Finnland gibt es vergleichbare Konzepte, bei denen Lehrkräfte hybrid zwischen Präsenz und Fernlehre wechseln – unterstützt durch digitale Plattformen und gezielte Schulungen.

Gegensätzliche Meinungen: Zwischen Pragmatismus und pädagogischer Kritik

Die Meinungen über die aktuellen Maßnahmen gehen auseinander. Während das Bildungsministerium betont, dass ohne Quereinsteiger und Vorgriffsstunde die Versorgung vollständig eingebrochen wäre, warnen Experten vor langfristigen Qualitätsverlusten. Lehrergewerkschaften wie die GEW fordern stattdessen eine bundesweit koordinierte Ausbildungsoffensive, bessere Arbeitsbedingungen und neue, attraktive Berufsbilder.

„Wir fahren das Bildungssystem aktuell auf Verschleiß. Die Leidtragenden sind Kinder, Eltern und am Ende die ganze Gesellschaft“

Auch die Opposition im Landtag kritisiert die Strukturpolitik der letzten Jahre: Zu viele Stellen seien abgebaut, Investitionen verschoben und die Digitalisierung verschleppt worden. Forderungen nach einem landesweiten Bildungsfonds zur gezielten Entlastung ländlicher Schulen liegen bereits vor.

Fazit: Bildungsqualität auf der Kippe

Der Lehrermangel im Harz ist ein Paradebeispiel für die strukturelle Krise des deutschen Bildungssystems – vor allem im ländlichen Raum. Die aktuellen Maßnahmen wirken wie Notoperationen: Sie verschaffen kurzfristig Luft, lösen aber nicht die tieferliegenden Probleme. Nur mit nachhaltigen Strategien – wie gezielter Nachwuchsförderung, attraktiven Anreizmodellen und innovativen Unterrichtsformen – lässt sich ein Zusammenbruch des Schulsystems verhindern.

Die nächsten Monate werden zeigen, ob die politisch Verantwortlichen bereit sind, über den Tag hinaus zu denken – und Bildung nicht nur als Kostenfaktor, sondern als Grundpfeiler gesellschaftlicher Zukunft zu behandeln.

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Ich bin im Herzen des Harzes aufgewachsen; Diese mystische und sagenumwobene Region inspirierte mich schon früh. Heute schreibe ich aus Leidenschaft, wobei ich die Geschichten und Legenden meiner Heimat in meinen Werken aufleben lasse. Der Harz ist nicht nur meine Heimat, sondern auch meine Muse.
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