Wernigerode, 26. Mai 2025, 10:00 Uhr (CCS)
Im Harz wird derzeit ein Mobilitätskonzept getestet, das weit über die Grenzen der Region hinaus Aufmerksamkeit erregt: Die kostenlose Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Dabei geht es nicht nur um Touristenfreundlichkeit, sondern um ein langfristiges Umdenken in Sachen Klimaschutz, Digitalisierung und Regionalentwicklung. Zwischen digitalem Ticket, Urlauberkarte und politischen Diskussionen zeichnet sich eine neue Etappe in der Mobilitätsgeschichte des Mittelgebirges ab.
HATIX – Die kostenlose Mobilität für Touristen
Seit mehreren Jahren können Urlauber im Harz von einem außergewöhnlichen Angebot profitieren: dem Harzer Urlaubs-Ticket, kurz HATIX. Es ist ein Modell, das zeigt, wie nachhaltiger Tourismus und einfache Mobilität zusammenfinden können. HATIX ist in der Gästekarte vieler Unterkünfte integriert und erlaubt die kostenlose Nutzung nahezu aller Bus- und Straßenbahnlinien in der Region.
Das Angebot gilt in den Landkreisen Harz, Mansfeld-Südharz, Goslar sowie Göttingen (ehemaliger Kreis Osterode). Es umfasst das gesamte Liniennetz der öffentlichen Bus- und Straßenbahnbetreiber – mit Ausnahmen: Fahrten mit der Deutschen Bahn, Abellio, den Harzer Schmalspurbahnen sowie Sonderverkehre wie Anruflinientaxis sind ausgeschlossen.
Finanzierung über Gästebeiträge
Finanziert wird HATIX über die Gästebeiträge, die Urlauber bei der Buchung einer Unterkunft entrichten. Die Kommunen leiten einen Teil dieser Beiträge zweckgebunden an die Verkehrsunternehmen weiter. So entstehen keine zusätzlichen Kosten für die Gemeinden. In Bad Sachsa beispielsweise tragen Gäste jährlich rund 63.500 Euro zur Finanzierung des regionalen ÖPNV bei.
HarZdigi – Digitales Ticket für Einheimische und Pendler
Parallel zu HATIX geht der Landkreis Harz einen weiteren Schritt in Richtung digitale Zukunft: Mit dem neuen System HarZdigi startet im Juni 2025 ein Pilotprojekt für einen digitalen E-Tarif. Dieser richtet sich insbesondere an Einheimische, Pendler und Gelegenheitsnutzer. Die Idee: Beim Einstieg in Bus oder Bahn checken sich Fahrgäste per Smartphone oder Bankkarte ein – beim Ausstieg erfolgt das Auschecken. Der Fahrpreis wird automatisch berechnet und direkt vom Konto abgebucht.
Das Projekt wird von den Harzer Verkehrsbetrieben (HVB) und der Halberstädter Verkehrs-GmbH (HVG) gemeinsam umgesetzt. In einer zweimonatigen Testphase im Sommer 2025 können angemeldete Teilnehmer das System kostenfrei ausprobieren.
HATIX+ Schiene Südharz – Ein Zwischenschritt in Richtung Bahn
Ein neues Zusatzangebot, eingeführt im Juni 2024, erweitert den Geltungsbereich des HATIX-Systems: Gegen einen kleinen Aufpreis von drei Euro pro Tag können Übernachtungsgäste im Südharz auch bestimmte Regionalbahnlinien nutzen. Das Zusatzangebot “HATIX+ Schiene Südharz” schließt u.a. die Strecken Walkenried – Herzberg – Wulften (RB 80/81) und Herzberg – Osterode – Seesen (RB 46) ein. So wird die Anbindung ländlicher Regionen an den überregionalen Bahnverkehr verbessert – ein Schritt, der von Tourismusakteuren begrüßt wird.
Tourismus und Mobilität: Zwei Seiten einer Medaille
Die touristische Attraktivität des Harzes basiert auch auf der natürlichen Schönheit und Erreichbarkeit abgelegener Ausflugsziele. Der kostenlose ÖPNV spielt dabei eine zentrale Rolle:
- Er reduziert das Verkehrsaufkommen in sensiblen Naturschutzgebieten.
- Er ermöglicht auch Gästen ohne Auto eine flexible Mobilität.
- Er trägt zur Entzerrung touristischer Hotspots bei.
Im Winter kommt dem System eine besondere Bedeutung zu. Da der Klimawandel die Schneesicherheit in den Höhenlagen zunehmend verringert, orientieren sich viele Touristen um – hin zu Wandern, Wellness oder Kultur. Ein gut funktionierender ÖPNV unterstützt diese Entwicklung und stärkt die ganzjährige touristische Nutzbarkeit der Region.
Gegenwind: Die Debatte um Bad Sachsa
Trotz vieler Vorteile regt sich auch Kritik: In der Stadt Bad Sachsa etwa stand im Frühjahr 2025 ein Ausstieg aus dem HATIX-System zur Debatte. Einige Ratsmitglieder argumentierten, dass die Mittel aus dem Gästebeitrag effizienter in andere touristische Projekte investiert werden könnten – etwa in die Modernisierung von Freizeitangeboten oder Infrastruktur.
Die Kreisverwaltung Göttingen hingegen warnte vor diesem Schritt: Ein Rückzug aus dem System könnte zu einem Anstieg des Autoverkehrs führen, was der nachhaltigen Tourismusstrategie widerspreche. Zudem könnte es Einbußen beim ÖPNV-Angebot geben, da die Finanzierung durch Gästebeiträge einen erheblichen Anteil an der Linienkostendeckung ausmacht. Auch die Bevölkerung, insbesondere ältere Menschen oder Jugendliche ohne Führerschein, wären betroffen.
„Ein Ausstieg gefährdet nicht nur den Tourismusstandort, sondern schwächt auch den Nahverkehr für die Bürgerinnen und Bürger“, so ein Sprecher des Landkreises.
Wissenschaftlicher Blick: Effekte auf das Mobilitätsverhalten
Studien, unter anderem aus der Schweiz, zeigen, dass kostenlose Nahverkehrsangebote einen messbaren Effekt auf das Mobilitätsverhalten haben können. So wurden in Regionen mit kostenlosem ÖPNV deutliche Verschiebungen vom Individualverkehr hin zum öffentlichen Verkehr festgestellt. Dies spart CO₂-Emissionen, senkt den Straßenverschleiß und entlastet Parkflächen.
Im Harz wird beobachtet, dass insbesondere junge Familien, Senioren und internationale Touristen von HATIX profitieren. Für viele ist das Ticket ein entscheidender Faktor bei der Buchungsentscheidung – insbesondere bei steigenden Benzinpreisen und Umweltbewusstsein.
Vergleich mit anderen Regionen: Deutschland und weltweit
Der Harz ist mit seinem Modell nicht allein. Vergleichbare Konzepte gibt es beispielsweise im Schwarzwald mit dem KONUS-Ticket. Auch dort erhalten Übernachtungsgäste kostenlose Mobilität in der Region. Doch nicht jede Stadt macht mit – Freiburg etwa lehnt eine Teilnahme bis heute ab, obwohl viele Touristen von dort in den Umlandverkehr einsteigen.
International finden sich weitere Beispiele: In Maricá (Brasilien) ist der städtische Busverkehr für alle Bürger kostenlos. In Tallinn (Estland) nutzen Einwohner ebenfalls gratis den ÖPNV. Solche Modelle zeigen, dass kostenlose Mobilität nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der politischen Zielsetzung ist.
Wirtschaftlicher Nutzen: Entlastung, nicht Belastung
Ein häufig geäußerter Vorbehalt gegenüber kostenlosen Verkehrssystemen betrifft die vermeintlich hohen Kosten. Im Fall von HATIX jedoch ist die Finanzierung transparent geregelt: Übernachtungsgäste finanzieren das System durch ihre Beiträge – eine klassische Umlagefinanzierung. Die Kommune zahlt nicht zusätzlich aus dem Haushalt, sondern gibt lediglich zweckgebundene Mittel weiter.
Dies macht HATIX zu einem finanzierbaren Modell für strukturschwächere Regionen, die von einem stabilen Tourismus profitieren. Gleichzeitig entlastet es die Umwelt und steigert die Aufenthaltsqualität – nicht zuletzt durch eine Reduktion des Autoverkehrs in engen Ortskernen.
Digitale Zukunft mit HarZdigi
Das Projekt HarZdigi ist ein Fingerzeig auf die Zukunft des Nahverkehrs. Mit digitalen Check-ins und vollautomatischer Abrechnung orientiert sich das Modell an Vorbildern aus Großbritannien oder Skandinavien. In der Pilotphase erhalten ausgewählte Tester im Juni und Juli 2025 die Möglichkeit, den Service kostenfrei zu erproben.
Der Landkreis Harz verfolgt damit ein Ziel: Mehr Nutzerfreundlichkeit, weniger Einstiegshürden und eine Vereinfachung des Tarifdschungels. Langfristig könnte das System als Vorlage für weitere Landkreise in Sachsen-Anhalt dienen – und über die Landesgrenzen hinaus Schule machen.
Fazit: Der Harz als Vorbildregion für grüne Mobilität
Mit den Angeboten HATIX, HATIX+ und HarZdigi entwickelt sich der Harz zu einem Modellraum für moderne Mobilitätskonzepte im ländlichen Raum. Die Verbindung von Digitalisierung, Klimaschutz und touristischem Service zeigt, wie regionale Herausforderungen mit innovativen Konzepten beantwortet werden können.
Gleichzeitig verdeutlichen lokale Diskussionen, dass jedes System einer kritischen Reflexion bedarf. Die Balance zwischen Kosten, Nutzen und Akzeptanz bleibt eine Herausforderung. Doch der Harz beweist, dass nachhaltige Verkehrskonzepte mehr sind als grüne Theorie – sie sind praktizierte Realität.
Ob andere Regionen nachziehen, bleibt abzuwarten. Der Anfang ist gemacht. Der Weg führt – im wahrsten Sinne – weiter.