
Wernigerode, 26. Mai 2025, 09:00 Uhr
Wernigerode gilt als Juwel des Harzes – farbenfrohe Fachwerkhäuser, ein malerisches Schloss und jährlich Hunderttausende Touristen. Doch hinter den Postkartenkulissen bröckelt es. Immer mehr Geschäfte in der Innenstadt schließen, ganze Ladenpassagen stehen leer. Dieser Kontrast zwischen touristischem Glanz und wirtschaftlicher Ernüchterung wirft Fragen auf: Warum leidet der Einzelhandel in einer Stadt, in der der Tourismus boomt?
Widersprüchliche Realität: Boomende Gästezahlen, sterbender Einzelhandel
Im Jahr 2024 verzeichnete Wernigerode über eine Million Übernachtungsgäste – ein Rekordwert für die Stadt. Während die Touristenzahlen also stetig steigen, klaffen in der Innenstadt immer mehr Lücken. Allein in den vergangenen sieben Jahren haben 53 Geschäfte ihre Türen für immer geschlossen. Besonders auffällig: In den Altstadt-Passagen, die einst als belebtes Einkaufsziel geplant waren, steht inzwischen fast die Hälfte der Ladenflächen leer.
Der Blick auf die Zahlen
Die Leerstandsquote der gesamten Innenstadt liegt bei etwa 4,5 %, was im bundesweiten Vergleich – mit durchschnittlich über 20 % – niedrig erscheint. Dennoch ist die gefühlte Leere in zentralen Passagen für Bewohner und Gäste gleichermaßen offensichtlich. Gerade in der Westernstraße, dem Herzstück der Altstadt, sind die Veränderungen sichtbar.
Ursachen: Warum schließen so viele Läden?
Die Gründe für das Ladensterben sind vielschichtig. Sie lassen sich in vier zentrale Kategorien unterteilen:
1. Wirtschaftliche Belastungen und Gebühren
Viele Einzelhändler klagen über steigende Betriebskosten. Dazu gehören nicht nur Energiepreise, sondern auch kommunale Gebühren – etwa für Außenwerbung, Außengastronomie oder Müllentsorgung. Diese Zusatzkosten lasten vor allem auf kleinen Betrieben, die kaum noch wirtschaftlich arbeiten können.
„Wir haben gute Umsätze gemacht, aber die laufenden Kosten haben uns das Genick gebrochen“, so ein ehemaliger Ladenbesitzer, der 2024 seinen Dekoladen in der Altstadt aufgeben musste.
2. Der Einfluss des Online-Handels
Wie überall in Deutschland hat auch in Wernigerode der Online-Handel massiv an Bedeutung gewonnen. Immer mehr Kundinnen und Kunden erledigen ihre Einkäufe bequem von zuhause aus – auch dann, wenn sie zuvor noch durch die Gassen der Stadt flaniert sind. Für die Einzelhändler vor Ort bedeutet das: weniger Umsatz bei gleichbleibenden Kosten.
3. Demografischer Wandel
Ein weiteres Problem ist der Wandel in der Bevölkerungsstruktur. Während ältere Menschen häufiger vor Ort einkaufen, zieht es viele junge Familien und Erwerbstätige in größere Städte oder ins Umland. Die Folge: eine schrumpfende Stammkundschaft. Ohne regelmäßige lokale Käufe ist der wirtschaftliche Druck auf Händler enorm.
4. Mangelnde Frequenzbringer
Insbesondere die Schließung von Ankerbetrieben – wie bekannten Modegeschäften, Cafés oder Dienstleistungsbetrieben – zieht weitere Schließungen nach sich. Diese sogenannten „Frequenzbringer“ sorgen normalerweise dafür, dass auch benachbarte Geschäfte profitieren. Fallen sie weg, sinkt die Attraktivität ganzer Straßenzüge.
Besondere Problemzone: Die Altstadt-Passagen
Die Altstadt-Passagen von Wernigerode, einst ambitioniert als moderne Ergänzung zur historischen Innenstadt geplant, haben sich in den letzten Jahren zum Sorgenkind entwickelt. Mit einer Leerstandsquote von fast 50 % gelten sie heute als Symbol für die strukturellen Probleme des lokalen Handels.
Händler sprechen von fehlender Investition in Infrastruktur, einer schlechten Beleuchtung, wenig Parkplätzen und mangelnder Beschilderung. Hinzu kommen teils veraltete Ladenflächen, die für moderne Anforderungen nicht mehr geeignet sind.
Perspektiven und Ansätze zur Rettung
Die Stadtverwaltung Wernigerode ist sich der Problematik bewusst und hat verschiedene Maßnahmen ins Leben gerufen, um den Trend zu stoppen und umzukehren.
Pop-up-Stores als Zwischennutzung
Ein vielversprechender Ansatz ist die Förderung von Pop-up-Stores. Diese temporären Geschäftskonzepte ermöglichen jungen Unternehmern und kreativen Start-ups, sich ohne langfristige Mietverpflichtungen zu erproben. Gleichzeitig können leerstehende Flächen kurzfristig belebt und die Innenstadt vielfältiger gestaltet werden.
Anpassung der Ladenöffnungszeiten
In Kooperation mit der Kaufmannsgilde werden flexible Öffnungszeiten getestet, um den Bedürfnissen moderner Kundschaft – darunter auch Touristen – besser gerecht zu werden. Ziel ist es, die Verweildauer in der Innenstadt zu erhöhen und den Umsatz über längere Zeitfenster zu verteilen.
Digitalisierung des Einzelhandels
Ein weiterer Lösungsansatz ist die Unterstützung lokaler Händler bei der Digitalisierung. Mit Förderprogrammen und Workshops werden Unternehmer ermutigt, Online-Präsenzen aufzubauen, Social Media gezielter zu nutzen und Click-and-Collect-Modelle anzubieten. Die Verknüpfung von Online- und Offline-Erlebnissen soll langfristig für mehr Resilienz sorgen.
Städtebauförderung und Zentrenkonzepte
Überregionale Programme wie „Lebendige Zentren“ ermöglichen es Wernigerode, Fördermittel zu beantragen und in die Umgestaltung und Attraktivitätssteigerung der Innenstadt zu investieren. Ziel ist es, das historische Erbe zu erhalten und gleichzeitig moderne Standards zu setzen.
Meinungen aus der Bevölkerung
Die Situation polarisiert. Während manche Anwohner die Stadt in die Pflicht nehmen, mahnen andere zur Geduld. Eine Auswahl von Stimmen:
„Es ist traurig, durch die Westernstraße zu gehen und an jedem zweiten Schaufenster ein ‚Zu vermieten‘-Schild zu sehen. Früher war hier Leben.“
„Wir haben einen starken Tourismus – aber die Gäste kommen wegen Schloss, Stadtbild und Natur, nicht zum Einkaufen. Der Handel muss sich darauf einstellen.“
„Ich wünsche mir mehr moderne Cafés, Ateliers oder Orte zum Verweilen – nicht nur Ketten oder Ramschläden.“
Vergleich mit anderen Städten
Im Vergleich zu anderen Städten im Harz steht Wernigerode noch relativ gut da. Städte wie Halberstadt oder Blankenburg verzeichnen teilweise doppelt so hohe Leerstandsquoten. Dennoch gilt: Der Tourismus allein reicht nicht aus, um den Einzelhandel am Leben zu halten. Ohne strukturelle Veränderungen droht auch Wernigerode eine schleichende Verödung der Innenstadt.
Fazit: Tourismus ist kein Allheilmittel
Wernigerode steht exemplarisch für viele mittelgroße Städte in Deutschland: Der Tourismus floriert, doch der stationäre Einzelhandel leidet. Die Ursachen sind vielschichtig und reichen von hohen Kosten über den demografischen Wandel bis hin zu strukturellen Fehlentwicklungen in der Stadtplanung.
Gleichzeitig zeigen erste Initiativen, dass Veränderung möglich ist. Pop-up-Stores, Digitalisierung, flexible Konzepte und gezielte Förderprogramme können helfen, die Innenstadt wiederzubeleben. Entscheidend ist jedoch, dass Stadtverwaltung, Händler, Bürger und Investoren gemeinsam an einem Strang ziehen.
Stichpunkte zur Entwicklung in Wernigerode:
Kriterium | Stand |
---|---|
Tourismusübernachtungen (2024) | Über 1 Million |
Leerstandsquote Innenstadt | Ca. 4,5 % |
Leerstand Altstadt-Passagen | Fast 50 % |
Geschlossene Läden seit 2017 | 53 |
Aktive Maßnahmen | Pop-up-Stores, Öffnungszeiten, Digitalisierung |
Wernigerode hat das Potenzial, eine lebendige, moderne Einkaufsstadt zu bleiben – wenn es gelingt, strukturell gegenzusteuern. Der Tourismus bietet Chancen, ist aber kein Ersatz für funktionierende Innenstadtstrukturen.