
Sachsen-Anhalt, 12. November 2025 – Ein grelles Blaulicht spiegelt sich in der Fensterscheibe einer Schulklasse, als Polizeibeamte morgens einen Computer beschlagnahmen. Solche Szenen sind längst keine Seltenheit mehr in Sachsen-Anhalt. Immer häufiger stehen Jugendliche selbst im Verdacht, kinderpornografische Inhalte zu besitzen oder weiterzuleiten – oft, ohne sich der Tragweite bewusst zu sein.
Die Zahl der Fälle steigt rasant – und Jugendliche sind immer häufiger Tatverdächtige
Nach aktuellen Angaben der Landeskriminalämter und der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie in Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Wurden 2019 noch 346 Fälle registriert, waren es 2024 bereits 1.048 – eine Verdreifachung innerhalb von fünf Jahren. Das entspricht einem Anstieg um 20,5 Prozent allein im Vergleich zum Vorjahr.
Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) sprach in diesem Zusammenhang von einer „besorgniserregenden Entwicklung“. Wörtlich sagte sie: „Wir müssen leider feststellen, dass zunehmend junge Menschen völlig unbedacht Missbrauchsdarstellungen verbreiten.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass die Dimension des Problems nicht nur in der Menge der Fälle liegt, sondern auch in der Altersstruktur der Verdächtigen.
Etwa die Hälfte aller Tatverdächtigen in Sachsen-Anhalt sind Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren. Bundesweit liegt der Anteil bei rund 42 Prozent, wie das Bundeskriminalamt (BKA) in seinem aktuellen Lagebild bestätigt. Besonders besorgniserregend ist, dass viele der Jugendlichen selbst nicht wissen, dass bereits das bloße Weiterleiten oder Speichern solcher Inhalte eine Straftat darstellt.
Neue Dynamik durch digitale Netzwerke und Social Media
Der Anstieg der Fallzahlen steht in engem Zusammenhang mit der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung des Alltags. Soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und Cloud-Plattformen sind längst Teil jugendlicher Kommunikation. Doch gerade dort entstehen auch Gefahren. Nach Angaben der Polizei werden in Gruppenchats und Online-Foren immer häufiger Missbrauchsdarstellungen geteilt – oft unreflektiert, manchmal aus reiner Neugier oder als Mutprobe.
Die Polizei Sachsen-Anhalt warnt regelmäßig auf ihren Social-Media-Kanälen mit Kampagnen wie #soundswrong vor den strafrechtlichen Konsequenzen. Diese Aufklärungsaktionen sollen Jugendliche sensibilisieren, dass bereits das Teilen einer Datei oder eines Fotos schwerwiegende Folgen haben kann. Präventionsexperten betonen, dass Aufklärung in Schulen, Elternhäusern und sozialen Netzwerken dringend intensiviert werden müsse.
Internationale Meldungen treiben die Fallzahlen zusätzlich in die Höhe
Ein weiterer Faktor, der die hohe Zahl der Ermittlungen erklärt, sind Hinweise aus dem Ausland. Vor allem die US-amerikanische Organisation National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC) spielt hierbei eine zentrale Rolle. Sie meldete allein 2024 über 1.900 Verdachtsfälle nach Sachsen-Anhalt – deutlich mehr als noch 2022 (1.724). Die meisten dieser Hinweise stammen von großen Online-Plattformen, die verdächtige Inhalte automatisch melden.
Zur Bewältigung der steigenden Ermittlungsflut hat das Landeskriminalamt eine spezielle Koordinierungsstelle eingerichtet. Diese wird durch digital geschulte Ermittlerteams unterstützt, die Datenträger auswerten, Internetspuren verfolgen und mit internationalen Partnern zusammenarbeiten. Auch die Staatsanwaltschaft Halle hat eine Zentralstelle für Kinderpornografiedelikte aufgebaut.
Eine gesellschaftliche Herausforderung mit beunruhigenden Zahlen
Die jüngsten BKA-Zahlen verdeutlichen, dass die Problematik nicht auf Sachsen-Anhalt beschränkt ist. Bundesweit stieg das Delikt „Verbreitung pornografischer Inhalte“ 2023 um 9,3 Prozent auf über 59.000 Fälle, davon drei Viertel mit Bezug zu Kindern. Jugendpornografische Inhalte nahmen sogar um mehr als 31 Prozent zu. Der bundesweite Trend zeigt, dass sich auch das Konsumverhalten verändert hat – und mit ihm die Art, wie Täter agieren.
Das Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen 2024“ spricht von 16.354 polizeibekannten Fällen sexuellen Missbrauchs. Rund 18.000 Minderjährige wurden 2024 Opfer sexueller Gewalt, mehr als 13.000 davon Mädchen. In 57 Prozent der Fälle bestand eine Vorbeziehung zwischen Opfer und Täter. Diese Zahlen lassen erahnen, wie komplex die Lage ist – und dass Prävention, Ermittlung und Aufklärung ineinandergreifen müssen.
Prävention unter Druck – Lücken in der Jugendarbeit
Während die Zahl der Ermittlungsverfahren steigt, sehen Fachstellen für Kinder- und Jugendschutz ihre Arbeit gefährdet. Nach Angaben der Servicestelle Kinder- und Jugendschutz Sachsen-Anhalt drohen wichtige Aufklärungsangebote durch fehlende Finanzierung auszulaufen. Gerade diese Programme, die Kinder und Jugendliche im Umgang mit digitalen Inhalten schulen, gelten jedoch als entscheidend, um Fehlverhalten frühzeitig zu verhindern.
Auch aus Foren und Online-Diskussionen wird deutlich, dass Jugendliche oftmals keine klare Vorstellung davon haben, wo die Grenze zwischen „Nacktbildern“ und strafbaren Darstellungen liegt. Fragen wie „Was passiert, wenn ich ein solches Bild weiterleite?“ oder „Darf ich ein Nacktfoto meines Freundes behalten?“ zeigen, wie groß die Unsicherheit ist. Viele Betroffene berichten von beschlagnahmten Handys und langen Ermittlungszeiten – ein massiver Einschnitt in das Leben eines Jugendlichen, selbst bei unbedachtem Handeln.
Rechtliche Rahmenbedingungen und Aufklärungsbedarf
Nach deutschem Strafrecht sind der Besitz, Erwerb oder die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte (§ 184b StGB) schwere Straftaten. Bereits der Versuch ist strafbar. Der Gesetzgeber hat die Mindeststrafen in den vergangenen Jahren verschärft: Der Besitz kann mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, die Verbreitung sogar mit bis zu fünf Jahren. Eine Reform, die 2024 im Bundestag beraten wurde, sieht für den Erwerb und Besitz künftig eine Mindeststrafe von drei Monaten vor.
Diese Verschärfungen sollen insbesondere abschreckend wirken – doch Experten mahnen, dass Strafverfolgung allein nicht ausreicht. Bildungs- und Präventionsarbeit müssen ebenso gestärkt werden wie die technische Aufklärung. Schulen, Eltern und soziale Träger tragen eine gemeinsame Verantwortung, Kinder und Jugendliche über rechtliche Grenzen und moralische Dimensionen aufzuklären.
Forschungsergebnisse zeigen erschütternde Online-Realität
Eine internationale Studie des Forschungsnetzwerks ArXiv untersuchte zwischen 2018 und 2023 das Suchverhalten im anonymen Tor-Netzwerk. Rund elf Prozent der mehr als 110 Millionen Suchsitzungen hatten einen direkten Bezug zu Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern (CSAM). Erschreckend: Über 40 Prozent dieser Suchanfragen betrafen Kinder unter elf Jahren. Mehr als die Hälfte der Befragten berichteten, erstmals im Kindesalter mit solchen Inhalten in Kontakt gekommen zu sein. Etwa 48 Prozent gaben an, Hilfe zu suchen, um dieses Verhalten zu beenden.
Auch wenn diese Zahlen nicht direkt auf Deutschland übertragbar sind, zeigen sie, dass Missbrauchsdarstellungen im Internet in erschreckendem Ausmaß verfügbar sind – und damit ein ständiges Risiko für Kinder und Jugendliche darstellen, entweder Opfer oder unbewusste Verbreiter zu werden.
Polizeiarbeit zwischen Ermittlungsdruck und Prävention
Ein Blick auf die Praxis zeigt, wie groß die Herausforderung für die Ermittlungsbehörden ist. Erst im November 2025 durchsuchte die Kriminalpolizei Halle und der Saalekreis 25 Objekte und stellte umfangreiche Datenträger sicher. Unter den Verdächtigen befanden sich Männer im Alter von 16 bis 74 Jahren. Die Beamten entdeckten dabei auch Verstöße gegen Waffen- und Sprengstoffgesetze. In sieben Fällen bestand akute Kindeswohlgefährdung. Zwar wurde niemand festgenommen, doch die Ermittlungen laufen weiter – ein Beispiel für die enorme Belastung der Ermittlerteams.
Das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt betont, dass sich die Aufklärungsquote zwar verbessert habe, aber die technischen Möglichkeiten der Täter ebenfalls zunehmen. Viele Dateien werden verschlüsselt, über Cloud-Dienste geteilt oder in verschleierten Foren ausgetauscht. Ermittler müssen digitale Spuren mühsam rekonstruieren – ein Wettlauf mit der Zeit und der Technik.
Gesellschaftliche Verantwortung und Perspektive
Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) weist darauf hin, dass die Datenlage zu jugendlichen Tätern noch immer lückenhaft sei. Dennoch steht fest: Kinder und Jugendliche sind im digitalen Raum gleichzeitig gefährdet und gefährdend. Experten empfehlen deshalb, präventive Maßnahmen früh anzusetzen – schon in Grundschulen, um die Sensibilität im Umgang mit digitalen Inhalten zu fördern.
- Stärkere digitale Bildung an Schulen
- Aufklärung über rechtliche Grenzen und Risiken
- Ausbau von Beratungsangeboten für Eltern und Kinder
- Langfristige Förderung von Jugendschutzprojekten
Ein Land im Zwiespalt zwischen Aufklärung und Repression
Die steigenden Fallzahlen in Sachsen-Anhalt zeigen, wie dringend ein gesellschaftlicher Diskurs über Verantwortung, Medienkompetenz und Strafverfolgung nötig ist. Während die Ermittlungszahlen Rekorde erreichen, bleibt Prävention oft auf der Strecke. Jugendliche brauchen Aufklärung, bevor sie in die Rolle von Tatverdächtigen geraten – nicht erst danach. Polizei und Justiz arbeiten mit Hochdruck, doch ohne eine flächendeckende Bildungsstrategie wird das Problem bestehen bleiben.
Die Entwicklung der letzten Jahre macht deutlich: Sachsen-Anhalt steht exemplarisch für ein gesamtdeutsches Phänomen. Digitale Kriminalität, insbesondere im Bereich kinderpornografischer Inhalte, ist längst kein Randthema mehr. Sie ist ein Spiegel unserer vernetzten Gesellschaft – mit allen Risiken, die daraus entstehen.







