
Goslar/Harz – 3. Mai 2025
Eine NDR-Dokumentation mit dem Titel „Heimat Harz – Wer stoppt den Niedergang?“ hat in der vergangenen Woche für heftige Reaktionen in der Harzregion gesorgt. Während die Autorinnen des Films auf strukturelle Probleme hinweisen wollten, empfinden viele Bürgerinnen und Bürger – insbesondere aus dem Landkreis Goslar – den Beitrag als ungerecht und stigmatisierend. Besonders laut wurde die Kritik durch Landrat Dr. Alexander Saipa, der in einem offenen Brief an den Norddeutschen Rundfunk schwere Vorwürfe erhob.
Die Kritik am Beitrag
In dem Film wurde die Region Harz in teils düsteren Bildern gezeichnet: Leerstände, Schulschließungen, abwandernde Jugend und ein maroder öffentlicher Nahverkehr. Die journalistische Absicht sei es gewesen, „Probleme zu zeigen, um Debatten anzustoßen“, so die Redaktion. Doch beim Publikum vor Ort kam das anders an. Saipa sprach in seinem Schreiben von einem „verzerrten Zerrbild“, das in keiner Weise die Bemühungen und Fortschritte der Region abbilde.
„Es ist kein journalistisches Interesse erkennbar, die Realität zu zeigen. Vielmehr handelt es sich um selektive Skandalisierung“, schreibt der Landrat.
Auch zahlreiche Bürgerinnen und Bürger äußerten sich empört in sozialen Medien. Die Facebook-Seite des Landkreises erlebte einen Ansturm von Kommentaren. Viele fühlten sich um ihre Identität gebracht, um ihr Heimatgefühl betrogen. “So leben wir nicht!”, lautet ein oft zitierter Satz.
Reaktionen aus der Region
Neben der politischen Spitze meldeten sich auch Akteure aus Wirtschaft, Tourismus und Bildung zu Wort. Die Tourismusförderung des Harzes sprach von einem „Image-Schaden“, der schwer zu beheben sei. Schulen und Vereine beklagten, dass positive Entwicklungen wie moderne Schulprojekte, Start-ups in ländlichen Räumen oder neue kulturelle Initiativen vollständig ausgeblendet wurden.
Ein Gastronom aus Wernigerode sagte gegenüber einer Regionalzeitung:
„Wir kämpfen ohnehin mit Personalnot, steigenden Kosten und Bürokratie. Jetzt auch noch als ‘abgehängt’ abgestempelt zu werden, macht es nicht einfacher.“
Was sagt der NDR?
Der Norddeutsche Rundfunk zeigte sich gesprächsbereit, aber verteidigte den Beitrag grundsätzlich. Man wolle in einem geplanten Online-Talk mit Kritikern und Redakteuren ins Gespräch kommen, um „den Dialog zu stärken und Missverständnisse zu klären“. Die zuständige Redaktion betont, dass die gezeigten Themen alle belegbar und journalistisch korrekt recherchiert worden seien.
Allerdings kündigte der Sender an, bei zukünftigen Dokumentationen verstärkt auch auf „Lichtblicke“ in strukturschwachen Regionen zu achten – ein erstes Eingeständnis, dass die Balance in der Darstellung möglicherweise nicht gelungen ist.
Ein Spiegel unserer Zeit?
Der Streit um die Doku wirft grundlegende Fragen auf: Wie objektiv müssen Medien berichten? Wie viel Zuspitzung ist erlaubt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen? Und inwiefern darf oder soll Journalismus auch Hoffnung vermitteln?
Hier öffnet sich ein Feld für tiefergehende, auch philosophische Betrachtungen – denn es geht nicht nur um den Harz, sondern um das Selbstbild von Regionen, um das kollektive Gefühl von Würde und Identität.
Kommentar: Von Wahrheit, Wahrnehmung und Würde
Die Aufregung um den Harz und seine mediale Darstellung ist mehr als ein lokales Medienthema. Sie ist ein Fenster in die Seele einer Gesellschaft, die um ihr Selbstverständnis ringt – besonders in ländlichen Räumen, die oft in den Schatten der Metropolen geraten.
Was ist Wahrheit?
Schon Platon stellte die Frage: „Was ist Wahrheit?“ In der Höhlengleichnis-Erzählung leben Menschen in einer Höhle und sehen nur Schatten der Wirklichkeit. Wer hinaustritt und die wahre Sonne sieht, wird zunächst nicht geglaubt – seine Wahrnehmung steht im Widerspruch zur kollektiven Erfahrung. So ähnlich wirkt auch die NDR-Doku: Sie zeigt Schattenseiten, die vielleicht real sind – aber nicht die ganze Wahrheit erzählen.
Wahrheit in der Berichterstattung ist nicht nur eine Frage von Fakten, sondern auch der Gewichtung. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sprach von „Horizontverschmelzung“ – der Versuch, die Sicht des anderen in die eigene einzuweben. Medien haben die Verantwortung, nicht nur zu enthüllen, sondern auch zu verbinden.
Der Mensch als Standort
Heimat ist mehr als ein Ort. Sie ist ein Gefühl. Sie ist Erinnerung, Gewohnheit, Gemeinschaft. Wird diese Heimat von außen als defizitär oder „verloren“ bezeichnet, verletzt das nicht nur den Stolz – es trifft die Würde.
Immanuel Kant schrieb: „Der Mensch ist Zweck an sich.“ Auch der Mensch in einer strukturschwachen Region. Wenn er bemüht ist, sein Leben gut und sinnvoll zu gestalten – mit oder trotz weniger Ressourcen –, dann verdient er Respekt, nicht Mitleid oder Herablassung.
Die Rolle der Medien
Natürlich muss Journalismus Missstände aufdecken. Natürlich dürfen Probleme nicht verschwiegen werden. Aber er muss sich auch fragen: Was will ich erzeugen? Empörung? Veränderung? Zynismus? Resignation?
Medien formen die Wirklichkeit, die sie zeigen. Sie beeinflussen Handeln, Investitionen, sogar den Stolz auf einen Geburtsort. Vielleicht brauchen wir mehr konstruktiven Journalismus – nicht um zu beschönigen, sondern um Perspektiven zu zeigen. Um zu sagen: „Es gibt Probleme, ja – aber auch Lösungen.“
Fazit
Die Debatte um die Harz-Dokumentation ist nicht nur medial, sondern menschlich. Sie rührt an etwas Tiefes: den Wunsch, gesehen zu werden – in der ganzen Wahrheit. Mit Licht und Schatten. Mit Schwächen und Stärken. Mit Würde.
Denn letztlich ist es nicht der Harz, der verteidigt wird. Es ist ein Gefühl. Ein Zuhause. Und das ist immer mehr als nur ein Fernsehbeitrag.