
Gardelegen. Am 28. September 2025 steht die Einheitsgemeinde Gardelegen vor einer richtungsweisenden Entscheidung. Bei einem Bürgerentscheid geht es darum, ob in den umliegenden Wäldern Sondergebiete für Windkraftanlagen ausgewiesen werden dürfen. Befürworter sehen darin einen Schritt in Richtung Energiewende, Gegner warnen vor massiven Eingriffen in Natur und Landschaft. Der Konflikt spiegelt zugleich eine Debatte wider, die weit über die Region hinaus Bedeutung hat – auch für den Harz.
Hintergrund: Warum Gardelegen abstimmt
Der Bürgerentscheid in Gardelegen ist kein Routinevorgang. Es geht nicht um eine Wahl zwischen Parteien, sondern um eine konkrete Sachfrage: Soll die Stadt Waldflächen für Windkraftprojekte freigeben oder nicht? Die Initiative für diese Abstimmung entstand aus wachsendem Druck innerhalb der Bevölkerung. Viele Bürger hatten das Gefühl, dass ihre Stimme bei der Planung neuer Energieprojekte bislang zu wenig Gehör fand.
Die Entscheidung ist bindend, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Zum einen muss die Mehrheit für eine Seite stimmen, zum anderen müssen mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten diese Position unterstützen. Nur wenn diese Hürde genommen wird, entfaltet das Ergebnis rechtliche Wirkung. Damit ist klar: Der Ausgang hängt nicht nur von der Stimmung, sondern auch von der Wahlbeteiligung ab.
Der konkrete Streitpunkt
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht das Waldgebiet „Hellberge“. Dort plant der Energiekonzern EnBW den Bau von bis zu 44 Windrädern. Das Areal umfasst rund 1.900 Hektar und besteht überwiegend aus Kiefernmonokulturen, die in den letzten Jahren durch Sturm, Trockenheit und Borkenkäfer stark geschädigt wurden. EnBW argumentiert, dass gerade solche Flächen für die Energiewende genutzt werden sollten, während gleichzeitig ein Umbau zu widerstandsfähigeren Mischwäldern erfolgen könne.
Die Gegner hingegen fürchten eine großflächige Rodung, Bodenverdichtung und negative Folgen für das Mikroklima. Zudem wird der hohe Wasserbedarf der geplanten Wasserstoffproduktion – rund 135 Millionen Liter Reinwasser jährlich – als Problem angeführt.
Die Stimmung in der Bevölkerung
Demonstrationen und Proteste
Schon Monate vor dem Abstimmungstermin machten Bürgerinitiativen mobil. Unter dem Slogan „Wir wollen keine Windräder in der Altmärkischen Schweiz“ versammelten sich rund 400 Menschen auf dem Rathausplatz von Gardelegen. In Redebeiträgen warnten sie vor der „Zerstörung des Waldes“ und verglichen die geplanten Windräder mit „Asbestdächern der Zukunft“. Solche Schlagworte verdeutlichen die emotionale Dimension der Debatte.
Kritik an der Informationspolitik
Neben ökologischen Bedenken gibt es auch Kritik an der Art, wie der Bürgerentscheid vorbereitet wurde. Einige Stadträte warfen der Verwaltung vor, die Informationsmaterialien seien „tendenziös“ und würden die Bevölkerung einseitig beeinflussen. Besonders die Formulierung der Fragestellung sorgte für Unmut. In sozialen Medien wurde darauf hingewiesen, dass man mit „Ja“ stimmen müsse, wenn man keine Windräder im Wald wolle – was viele als verwirrend empfanden.
Versprochene finanzielle Anreize
Ein weiterer Aspekt, der in sozialen Netzwerken diskutiert wird, sind mögliche finanzielle Vorteile für die Bevölkerung. So kursierte die Information, dass Haushalte mit einer Vergütung von 250 Euro pro Jahr profitieren könnten, sollte das Projekt umgesetzt werden. Gegner sehen darin den Versuch, Widerstände zu erkaufen, während Befürworter auf die Chance zusätzlicher Einnahmen für die Region verweisen.
Die Sicht der Befürworter
Klimaschutz und Energiebedarf
Aus Sicht der Unterstützer des Projekts ist die Lage eindeutig: Ohne einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien sei die Energiewende nicht zu schaffen. EnBW verweist auf die gesamtdeutsche Entwicklung: Bis Ende 2023 wurden rund 2.450 Windräder in Wäldern errichtet, mit einer Gesamtleistung von 6.610 Megawatt. Das entspricht etwa elf Prozent der gesamten installierten Windenergieleistung an Land. Und die Flächeninanspruchnahme? Laut EnBW beträgt sie nur 0,01 Prozent der gesamten Waldfläche in Deutschland.
Antwort auf eine häufige Frage
Frage: Wie viele Windkraftanlagen plant EnBW im Projekt Gardelegen und wie groß ist der Flächenbedarf?
Antwort: Geplant sind bis zu 44 Anlagen mit einer Gesamtleistung von 350 Megawatt. Der Flächenbedarf liegt bei etwa 26 Hektar – also rund 1,4 Prozent des betreffenden Waldgebiets. Befürworter sehen darin ein vertretbares Verhältnis von Nutzen und Eingriff.
Waldumbau als Chance
Ein zentrales Argument lautet, dass die betroffenen Flächen ohnehin geschädigt sind. Statt den Wald sich selbst zu überlassen, könne ein kontrollierter Umbau erfolgen – mit neuen Baumarten, die widerstandsfähiger gegenüber Klimawandel und Schädlingsbefall sind. Befürworter verweisen darauf, dass auch im Harz seit Jahren über neue Konzepte für den Waldumbau diskutiert wird. Gardelegen könne hier ein Modellfall sein.
Die Sicht der Gegner
Natur- und Artenschutz
Naturschutzorganisationen wie der Bundesverband für Naturschutz warnen, dass Windkraftanlagen im Wald vor allem für Fledermäuse und Vögel ein erhebliches Risiko darstellen. Die Rotorblätter könnten zu Kollisionen führen, während der Lebensraum durch Lärm, Licht und erhöhte Zugänglichkeit gestört werde. Diese Bedenken betreffen nicht nur Gardelegen, sondern auch angrenzende Regionen wie den Harz, wo ebenfalls über Projekte im Wald diskutiert wird.
Ökologische Risiken
Kritiker heben hervor, dass Windparks im Wald nicht nur Flächen beanspruchen, sondern auch indirekte Folgen haben. Dazu zählen veränderte Luft- und Temperaturverhältnisse bis tief in den Wald hinein sowie die Gefahr einer langfristigen Bodenverdichtung durch Baustraßen und Wartungswege. Hinzu kommt der Wasserverbrauch für die gekoppelte Wasserstoffproduktion – ein Thema, das in Zeiten sinkender Grundwasserspiegel zunehmend an Gewicht gewinnt.
Antwort auf eine weitere Frage
Frage: Warum wird das Waldgebiet um Breitenfeld, Sichau, Solpke und Weteritz für das Windprojekt genannt?
Antwort: Weil es sich um Kiefernmonokulturen handelt, die bereits stark geschädigt sind. Befürworter sehen darin eine Chance, während Kritiker befürchten, dass der Eingriff den Wald endgültig zerstört.
Politische Rahmenbedingungen
Gesetzesänderungen auf Landesebene
Bisher galt in Sachsen-Anhalt ein pauschales Verbot für Windkraftanlagen im Wald. Doch dieses Verbot wird zunehmend infrage gestellt. Forstminister Sven Schulze betonte zwar, dass eine Lockerung nicht bedeute, dass „in jedem Wald uneingeschränkt Windräder gebaut werden dürfen“. Dennoch sehen viele darin die Weichenstellung, dass künftig auch Waldflächen stärker in den Fokus geraten.
Bundesweite Entwicklungen
Das Wind-an-Land-Gesetz von 2023 verpflichtet die Bundesländer, bestimmte Flächen für den Ausbau der Windkraft bereitzustellen. Da in vielen Regionen freie Flächen knapp sind, geraten auch Wälder ins Blickfeld. Dies führt zu Konflikten, die nicht nur Gardelegen, sondern auch den Harz und andere Mittelgebirge betreffen, wo ähnliche Diskussionen geführt werden.
Praktische Fragen der Bürger
Unklare Begriffe
Frage: Was bedeutet „verfahrenskombinierte Anlagen“ im Bürgerentscheid von Gardelegen?
Antwort: Damit sind Projekte gemeint, die Windenergie mit weiteren Technologien kombinieren, etwa Wasserstoffproduktion. Der Bürgerentscheid zielt darauf ab, solche Anlagen in Waldgebieten zu verhindern.
Bindung der Entscheidung
Frage: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit der Bürgerentscheid in Gardelegen bindend wird?
Antwort: Neben einer einfachen Mehrheit müssen mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten für die gewinnende Seite stimmen. Erst dann entfaltet das Ergebnis rechtliche Wirkung.
Kritik am Verfahren
Frage: Welche Kritik wird an der Informationslage zum Bürgerentscheid in Gardelegen geübt?
Antwort: Kritiker bemängeln, dass die Vorlage tendenziös formuliert sei. Einige Stadträte äußerten Bedenken, die Bürger könnten durch einseitige Darstellungen beeinflusst werden.
Regionale Bedeutung für den Harz
Ein Streitfall mit Signalwirkung
Die Debatte in Gardelegen ist mehr als eine lokale Auseinandersetzung. Sie verweist auf eine Grundfrage, die auch im Harz drängender wird: Wie lassen sich Energiewende, Naturschutz und regionale Interessen in Einklang bringen? In beiden Regionen spielt der Wald eine zentrale Rolle – als wirtschaftlicher Faktor, Erholungsraum und ökologisches Rückgrat. Der Entscheid von Gardelegen wird deshalb aufmerksam im Harz verfolgt.
Lehren für künftige Projekte
Ob die Abstimmung mit einem klaren Ja oder Nein endet – die Auseinandersetzung zeigt, dass Großprojekte im Energiebereich ohne breite Beteiligung nicht mehr durchsetzbar sind. Transparente Informationspolitik, klare Fragestellungen und ernsthafte Bürgerbeteiligung werden entscheidend dafür sein, ob ähnliche Vorhaben im Harz und anderswo Akzeptanz finden.
Fazit: Zwischen Waldschutz und Energiewende
Der Bürgerentscheid in Gardelegen ist ein Lackmustest für die Akzeptanz von Windenergie im Wald. Auf der einen Seite stehen die dringenden Anforderungen der Energiewende, die auch im Harz spürbar sind. Auf der anderen Seite gibt es berechtigte Sorgen um Natur, Artenvielfalt und die Identität der Landschaft. Ob 44 Windräder in den Hellbergen kommen oder nicht – die Diskussion wird weitergehen. Denn die Fragen, die hier gestellt werden, betreffen nicht nur Gardelegen, sondern ganz Sachsen-Anhalt und den Harz: Wie viel Natur sind wir bereit aufzugeben, um unsere Energieziele zu erreichen, und welche Alternativen sind denkbar? Am Ende zeigt sich, dass die Energiewende nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein gesellschaftliches Projekt ist.