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Harz | Kinoerlebnis auf vier Rädern: Wie ein Feuerwehroldtimer Stummfilme zum Leben erweckt

Herzberg im Harz – Wenn am Abend die Sonne untergeht und ein roter Magirus Deutz auf dem Kirchplatz vorfährt, beginnt ein Kinoerlebnis der besonderen Art. Ausgestattet mit Projektoren, Lautsprechern und musikalischem Feingefühl, bringt ein Wanderkino historische Stummfilme zurück auf die Leinwand – und das aus einem ausgebauten Feuerwehrauto heraus.

Ein rollendes Kino mit Geschichte

Seit 1999 reist ein einzigartiges Filmprojekt durch Städte und Dörfer Europas: das Wanderkino im Feuerwehroldtimer. Hinter dem Steuer des ehemaligen Magirus Deutz Feuerwehrwagens steckt mehr als Nostalgie – es ist ein mobiles Gesamtkunstwerk, das Kino und Konzert auf einzigartige Weise vereint. Der restaurierte Wagen, Baujahr 1969, ist heute mit allem ausgestattet, was es für eine filmische Zeitreise braucht: 16-mm-Filmprojektoren, Leinwand, Ton- und Lichttechnik sowie ein integriertes Musiksystem für Live-Vertonungen.

Die Idee: Klassiker der Stummfilmzeit in einem authentischen Rahmen zu zeigen – unter freiem Himmel, begleitet von professionellen Musikern, die in Echtzeit auf das Geschehen auf der Leinwand reagieren. Diese Kombination aus historischem Bildmaterial und improvisierter Musik macht jeden Abend zu einem einmaligen Erlebnis.

Zwischen Charlie Chaplin und Violine

Das Filmprogramm

Gezeigt werden Perlen der frühen Filmgeschichte. Namen wie Charlie Chaplin, Buster Keaton, Laurel & Hardy oder Fatty Arbuckle stehen für Slapstick, Pioniergeist und den Beginn des Kinos als Massenmedium. Die Filme stammen aus einer Zeit, in der Gestik, Mimik und dramatische Bilder die Handlung trugen – ganz ohne Tonspur.

Das Programm variiert je nach Veranstaltungsort. Mal steht ein komödiantisches Doppelpack mit Chaplin und Keaton auf dem Spielplan, mal rücken experimentellere Streifen wie „Der letzte Mann“ von F.W. Murnau in den Fokus. Diese Vielfalt ermöglicht es, verschiedene Facetten des Stummfilms abzubilden – vom puren Slapstick bis zur expressionistischen Kunst.

Livemusik als zentrales Element

Die Livemusik ist das Herzstück des Wanderkinos. Sie verwandelt die Stummfilme in lebendige Erlebnisse. Musiker wie Tobias Rank (Klavier) und Izabela Kałduńska (Violine) begleiten die Filme mit improvisierten Klängen, die je nach Film dramatisch, humorvoll oder melancholisch ausfallen. Auch andere Instrumentalisten wie Waltraut Elvers (Bratsche) und Sebastian Pank (Saxophon/Bassklarinette) kommen regelmäßig zum Einsatz.

„Die Musik entsteht im Moment. Jeder Abend ist anders, weil auch das Publikum anders ist“, sagte Pianist Tobias Rank in einem Interview.

Diese musikalische Echtzeitinterpretation schafft eine direkte Verbindung zwischen Film, Musiker und Zuschauer – und damit eine emotionale Tiefe, die konventionelle Kinovorstellungen selten erreichen.

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Orte des Geschehens – von Herzberg bis Prerow

Das Wanderkino ist nicht an einen festen Ort gebunden. Die Tour führt quer durch Deutschland, mal an die Nordseeküste, mal ins Alpenvorland. Herzberg im Harz ist nur eine von vielen Stationen. Weitere Stopps in der Saison 2025 sind unter anderem:

Ort Datum Besonderheit
Herzberg (Harz) 11. Juli Vorplatz der Nikolaikirche
Ostseebad Prerow 1. August Hafen, Open-Air direkt am Wasser
Darmstadt 28. Mai Johannesplatz, Stadtfestival
Jever 23. August Teil eines Kulturwochenendes

Auch in Österreich, der Schweiz oder Italien war das Wanderkino bereits zu Gast. Besonders geschätzt wird das Konzept auf Dorffesten, in Schlossparks oder an ungewöhnlichen Plätzen wie Industriebrachen oder Hafenanlagen.

Ein Brückenschlag zur Filmgeschichte

Die Idee des Wanderkinos ist keineswegs neu. Schon ab 1896 tourten reisende Filmvorführer über Jahrmärkte und in kleine Gemeinden. Diese Vorführungen fanden in Zelten statt und hatten nicht selten über 1000 Sitzplätze. Bis in die 1960er-Jahre hinein waren sie fester Bestandteil des kulturellen Lebens auf dem Land.

Mit dem Siegeszug stationärer Lichtspielhäuser geriet das mobile Kino jedoch zunehmend in Vergessenheit. Erst durch Initiativen wie das heutige Wanderkino lebt die Tradition wieder auf – und wird neu interpretiert. Neben der romantischen Idee steckt hinter dem Projekt aber auch moderne Logistik: Der Betrieb eines solchen mobilen Kinos erfordert präzise Planung, Genehmigungen, technisches Know-how und nicht zuletzt ein engagiertes Team.

Warum Stummfilm wieder fasziniert

Der Stummfilm galt lange Zeit als Nischenphänomen – doch das hat sich geändert. Große Festivals wie die Internationalen Stummfilmtage in Bonn zeigen: Das Interesse wächst. Jährlich besuchen über 20.000 Menschen das Festival, auch digital gibt es steigende Reichweiten. Die Kombination aus analogem Film, Live-Musik und Open-Air-Flair trifft offenbar einen Nerv – gerade in einer Zeit, in der Streaming-Angebote das Kinoerlebnis zunehmend standardisieren.

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Für viele Besucher ist das Wanderkino eine bewusste Entschleunigung. Kein Popcorn, keine Werbung, keine digitale Projektion – dafür eine Leinwand unter Sternenhimmel, Musik, die live mitschwingt, und Filme, die auch ohne Worte berühren. Gerade junge Menschen entdecken auf diese Weise eine neue Seite des Kinos – emotional, nahbar, eindrucksvoll.

Technik trifft Handwerk

Im Zentrum steht nicht nur der Film, sondern auch die Technik. Die eingesetzten 16-mm-Projektoren verlangen handwerkliches Geschick. Die Filme werden von echten Filmrollen abgespielt, das Bild über eine Leinwand projiziert, die an Gebäudefassaden oder auf offenen Plätzen aufgebaut wird. Bei Regen ziehen sich die Veranstalter mit Publikum in nahegelegene Kirchen, Scheunen oder Kulturhäuser zurück – so wie in Herzberg in die Nikolaikirche.

Der restaurierte Magirus Deutz bietet dafür eine rollende Basisstation: Stromversorgung, Tonmischer, Lautsprecher, Lichtsystem – alles ist an Bord. So entsteht ein autarkes System, das unabhängig von örtlicher Infrastruktur funktioniert.

Langfristiger kultureller Nutzen

Das Wanderkino trägt nicht nur zur Unterhaltung bei – es bewahrt auch ein Stück Filmgeschichte. Bis zu 90 Prozent aller Stummfilme gelten heute als verloren, weil das ursprüngliche Filmmaterial chemisch zerfiel. Jede Aufführung ist damit auch ein Akt der kulturellen Erinnerung und des Bewahrens.

Das Projekt wurde 2023 mit dem Deutschen Stummfilmpreis ausgezeichnet – ein Beleg dafür, dass es mehr ist als eine nostalgische Spielerei. Es zeigt, dass Kultur nicht ortsgebunden sein muss und dass Film auch ohne große Studios und Kinoketten funktionieren kann.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Wie funktioniert ein Wanderkino im Feuerwehroldtimer?

Ein restaurierter Magirus-Feuerwehrwagen wurde zu einem mobilen Kinosaal umgebaut. Darin befinden sich Projektoren, Lautsprecher und Technik für Live-Musik. Vor Ort wird die Leinwand aufgebaut, das Publikum sitzt im Freien.

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Wo kann man das Wanderkino in Deutschland erleben?

Das Wanderkino tourt durch ganz Deutschland – von Nordseeküstenorten bis hin zu kleinen Städten wie Herzberg im Harz oder Prerow an der Ostsee. Termine werden meist lokal bekannt gegeben.

Welche Filme werden gezeigt?

Zum Repertoire gehören Klassiker der Stummfilmzeit – meist Slapstick-Komödien mit Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Laurel & Hardy, aber auch dramatische Werke des deutschen Expressionismus.

Was kostet ein Besuch beim Wanderkino?

Die Preise variieren. Manche Vorführungen sind frei zugänglich mit Spendenaufruf, andere verlangen Eintritt zwischen 4 und 24 Euro – je nach Ort, Künstleranzahl und Veranstalterstruktur.

Wer spielt die Musik live?

Zu den bekanntesten Musiker:innen des Projekts gehören Tobias Rank (Klavier) und Izabela Kałduńska (Violine). Je nach Termin begleiten sie mit wechselnden Instrumentalist:innen die Filme live.

Fazit: Eine Zeitreise für alle Sinne

Das Wanderkino im Feuerwehroldtimer ist mehr als ein nostalgischer Ausflug – es ist ein lebendiges Stück Kulturgeschichte, das Menschen in ganz Europa verbindet. Mit Filmklassikern, echter Handwerkskunst und musikalischer Improvisation entsteht ein analoges Erlebnis, das sich dem Tempo der heutigen Zeit bewusst entzieht. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur unterhalten, sondern auch inspiriert – und geht mit dem Gefühl nach Hause, etwas wirklich Einmaliges erlebt zu haben.

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Über den Autor

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Ich bin im Herzen des Harzes aufgewachsen; Diese mystische und sagenumwobene Region inspirierte mich schon früh. Heute schreibe ich aus Leidenschaft, wobei ich die Geschichten und Legenden meiner Heimat in meinen Werken aufleben lasse. Der Harz ist nicht nur meine Heimat, sondern auch meine Muse.