
Wernigerode – Die Armut im Harz nimmt spürbar zu. Immer mehr Menschen können sich das tägliche Leben kaum noch leisten und suchen Hilfe bei den Tafeln. Besonders im Landkreis Harz und in anderen Teilen Sachsen-Anhalts verzeichnen die Hilfsorganisationen einen deutlichen Anstieg an Bedürftigen – während gleichzeitig die Spenden zurückgehen.
Ein wachsendes Problem: Wenn der Alltag unbezahlbar wird
In Sachsen-Anhalt leben laut aktuellen Zahlen rund 554.000 Menschen in Armut oder sozialer Ausgrenzung – das sind 25,8 Prozent der Bevölkerung. Damit gehört das Bundesland zu den Regionen mit der höchsten Armutsquote in Deutschland. Im Harz ist diese Entwicklung besonders sichtbar: Tafeln berichten von Rekordnachfragen, während sich gleichzeitig die wirtschaftlichen und sozialen Probleme vieler Haushalte verschärfen.
Die Ursachen sind vielfältig. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise, stagnierende Löhne und hohe Wohnkosten belasten vor allem Menschen mit geringem Einkommen. „Viele schaffen es einfach nicht mehr, am Ende des Monats über die Runden zu kommen“, erklärt eine Mitarbeiterin der Tafel Harz. Diese Einschätzung spiegelt sich in den Zahlen wider: Immer mehr Menschen suchen Hilfe bei den Tafeln, die an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.
Wie stark ist die Nachfrage bei Tafeln im Harz gestiegen?
Im Landkreis Harz sind mittlerweile über 1.300 Menschen auf die Unterstützung der Tafel angewiesen. Tendenz: steigend. Besonders deutlich zeigt sich der Anstieg in Städten wie Wernigerode oder Halberstadt. Hier melden sich zunehmend auch Menschen, die bisher ohne fremde Hilfe ausgekommen sind – darunter Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende und sogar Berufstätige, deren Einkommen nicht mehr ausreicht.
Nach Angaben des Landesverbands der Tafeln in Sachsen-Anhalt wurden im vergangenen Jahr mehr als 6.200 Paletten mit Lebensmitteln und Waren verteilt – ein Rekordwert. Über 600 Ehrenamtliche engagieren sich landesweit, um Bedürftige zu versorgen. Doch trotz des Engagements stoßen viele Einrichtungen an ihre Grenzen, da Lebensmittelspenden rückläufig sind.
Wer sind die neuen Gesichter der Armut im Harz?
Das Bild der Bedürftigen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Armut betrifft längst nicht mehr nur Menschen ohne Arbeit. Auch Familien mit Einkommen geraten zunehmend in Not, wenn Mieten, Energie und Lebensmittelpreise steigen. Ein wachsender Anteil der Tafelbesucher sind Erwerbstätige, die trotz Arbeit unter der Armutsgrenze leben – sogenannte „Working Poor“.
Wer nutzt die Tafeln in Sachsen-Anhalt?
Rund 53 Prozent der Tafelnutzer in Sachsen-Anhalt sind Erwachsene im erwerbsfähigen Alter. Etwa 23 Prozent sind Rentnerinnen und Rentner. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern. Laut Studien des Paritätischen Gesamtverbands gelten in Sachsen-Anhalt inzwischen über 28 Prozent der Bevölkerung als arm – das sind mehr als 600.000 Menschen.
Ein Teufelskreis der Belastung
Viele dieser Menschen geraten in einen Teufelskreis: Hohe Wohnkosten, steigende Lebenshaltungsausgaben und niedrige Löhne führen dazu, dass sie sich weder Ersparnisse aufbauen noch Rücklagen für Notfälle anlegen können. „Trotz Arbeit reicht es oft nicht einmal für das Nötigste“, heißt es in einer Analyse des Paritätischen Gesamtverbands.
Wohnkosten als Armutsfaktor im Harz
Ein zentrales Problem in vielen Städten Sachsen-Anhalts ist die Wohnkostenbelastung. Gerade im Harz, wo Einkommen oft niedriger sind als im Bundesdurchschnitt, fressen Miete und Nebenkosten einen großen Teil des Budgets. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Armutsquote in Sachsen-Anhalt erheblich steigt, wenn Wohnkosten berücksichtigt werden. Das bedeutet: Selbst wer über der offiziellen Armutsgrenze liegt, kann durch hohe Fixkosten in finanzielle Not geraten.
Wie Tafeln im Harz trotz Engpässen helfen
Die Tafeln im Harz reagieren auf die wachsende Notlage mit großem Engagement. In Sangerhausen, Quedlinburg und Halberstadt werden zunehmend dezentrale Strukturen aufgebaut, um auch Menschen in abgelegenen Dörfern zu erreichen. Logistische Anpassungen, wie die Einrichtung eines zentralen Lagers in Hohenerxleben, sollen helfen, Transporte zu bündeln und Kosten zu senken.
Wie gut sind Tafeln in Sachsen-Anhalt organisiert?
Die Tafeln versuchen, ihre Infrastruktur an die ländlichen Gegebenheiten anzupassen. Kürzere Fahrwege, geteilte Ressourcen und mobile Ausgabestellen sorgen dafür, dass Hilfe auch dort ankommt, wo sie dringend gebraucht wird. Das Ziel: eine effizientere Verteilung trotz knapper Mittel.
Engagement auf lokaler Ebene
Ein Beispiel ist der Arbeitsbesuch der Tafel-Landesleitung in Sangerhausen. Dort werden etwa 1.500 Menschen regelmäßig mit Lebensmitteln versorgt – trotz zurückgehender Spenden. Niemand musste bisher abgewiesen werden, dank des Einsatzes zahlreicher Ehrenamtlicher. Diese lokale Solidarität ist eine wichtige Stütze im Kampf gegen Armut im Harz.
Ein Blick über den Harz hinaus: Armut in Deutschland
Die Entwicklung im Harz spiegelt einen bundesweiten Trend wider. Laut dem Armutsbericht 2025 des Paritätischen Gesamtverbands liegt die Armutsquote in Deutschland inzwischen bei 15,5 Prozent – rund 13 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Erwerbslose und ältere Menschen.
In Sachsen-Anhalt fällt die Situation noch gravierender aus. Hier gelten über ein Viertel der Bevölkerung als arm oder armutsgefährdet. Während der Median des monatlichen Einkommens bundesweit bei etwa 2.500 Euro liegt, beträgt er in Sachsen-Anhalt nur rund 1.900 Euro. Das wirkt sich direkt auf die Kaufkraft und das Konsumverhalten der Menschen aus – und damit auf die lokale Wirtschaft.
Soziale Schieflage trifft Frauen besonders stark
Ein Bericht von Human Rights Watch zeigt, dass vor allem Frauen von struktureller Armut betroffen sind. Alleinerziehende und Frauen mit Teilzeitstellen geraten besonders häufig in finanzielle Not. „Trotz seiner Ressourcen gelingt es dem deutschen Sozialsystem nicht, allen Bürgerinnen und Bürgern ein angemessenes Existenzminimum zu sichern“, heißt es im Bericht. Diese Einschätzung trifft auch auf viele Regionen im Harz zu, wo Frauen überdurchschnittlich oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.
Warum die geplante Nullrunde bei der Grundsicherung für Empörung sorgt
Für das Jahr 2026 ist eine sogenannte Nullrunde bei den Regelsätzen der Grundsicherung vorgesehen. Das bedeutet, dass die staatlichen Leistungen nicht erhöht werden – trotz Inflation und steigender Preise. Sozialverbände in Sachsen-Anhalt kritisieren diese Entscheidung scharf, da sie einkommensschwache Haushalte weiter belasten würde. Besonders im Harz, wo viele Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind, könnte diese Maßnahme gravierende Folgen haben.
Gesellschaftliche Verantwortung und Ausblick
Während staatliche Hilfsstrukturen oft überfordert sind, übernehmen Tafeln, Kirchen und Wohlfahrtsverbände zunehmend die Rolle eines sozialen Sicherheitsnetzes. Doch auch sie stoßen an Grenzen. Der Landesverband der Tafeln betont, dass die Einrichtungen auf eine verlässliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind – nicht nur auf Spenden, sondern auch auf strukturelle Förderung durch Kommunen und Land.
Was muss sich ändern?
- Langfristige Finanzierung und Entlastung der Tafeln
- Mehr Unterstützung für Ehrenamtliche und Logistik
- Verbesserte Arbeitsbedingungen und faire Löhne
- Gezielte Armutsprävention durch Bildung und soziale Integration
- Erhöhung der Grundsicherung entsprechend der Lebenshaltungskosten
Diese Maßnahmen könnten helfen, den Teufelskreis aus Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung zu durchbrechen. Der Harz könnte dabei als Modellregion dienen, um zu zeigen, wie gemeinschaftliche Verantwortung Armut nachhaltig lindern kann.
Fazit: Der Harz im Spannungsfeld zwischen Not und Solidarität
Armut im Harz ist längst keine Randerscheinung mehr. Immer mehr Menschen kämpfen mit steigenden Lebenshaltungskosten und sinkender Kaufkraft. Tafeln und soziale Organisationen leisten Außergewöhnliches, um die Not abzufedern – doch sie können das strukturelle Problem nicht allein lösen. Der Harz steht exemplarisch für eine Entwicklung, die viele Regionen Ostdeutschlands betrifft: eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Solidarität und Überforderung.
Gleichzeitig zeigen die zahlreichen Helferinnen und Helfer, dass Gemeinschaft und Menschlichkeit stark sind. Ob in Halberstadt, Quedlinburg oder Wernigerode – überall im Harz gibt es Menschen, die anpacken, teilen und Hoffnung geben. Doch um langfristig echte Veränderungen zu erreichen, braucht es mehr als guten Willen: Es braucht politische Entscheidungen, die Armut nicht nur verwalten, sondern wirksam bekämpfen. Denn die wachsende Zahl der Hilfesuchenden im Harz ist ein deutliches Zeichen: Die soziale Schieflage darf nicht zur Normalität werden.