
Wernigerode, 15. Juni 2025, 09:30 Uhr
Die Zeichen im Harzer Nahverkehr stehen weiter auf Auseinandersetzung: Nachdem der jüngste Warnstreik am 6. Juni den öffentlichen Verkehr in weiten Teilen der Region lahmgelegt hat, blicken Beschäftigte, Fahrgäste und Arbeitgeber gespannt auf die nächsten Verhandlungen. Trotz vorsichtiger Annäherungen scheint eine Einigung noch nicht in Sicht – und neue Arbeitsniederlegungen sind keineswegs ausgeschlossen.
Hintergrund: Wer streitet mit wem – und warum?
Im Zentrum des Tarifkonflikts stehen die Gewerkschaft ver.di und der Arbeitgeberverband Nahverkehr (AVN), zu dem unter anderem die Harzer Verkehrsbetriebe (HVB) und die Halberstädter Verkehrsgesellschaft gehören. Ver.di fordert für die Beschäftigten nicht nur eine lineare Gehaltserhöhung von 8 bis 14 Prozent, sondern auch einen monatlichen Festbetrag von 50 Euro für Gewerkschaftsmitglieder. Die Arbeitgeber hingegen bieten lediglich eine Erhöhung von 2 bis 2,3 Prozent jährlich – aus Sicht der Arbeitnehmerseite deutlich zu wenig, vor allem im Vergleich mit tariflich besser gestellten Regionen wie Magdeburg oder Niedersachsen.
„Es geht hier nicht nur um Geld, sondern um Gerechtigkeit“, betont ein ver.di-Sprecher. „Wer im Harz Bus fährt, verdient derzeit deutlich weniger als Kolleginnen und Kollegen in den umliegenden Regionen – das ist nicht länger hinnehmbar.“
Der letzte Warnstreik: Stillstand und Signal
Am 6. Juni kam es im gesamten Harzkreis zu einem ganztägigen Warnstreik. Busse und Straßenbahnen blieben stehen, der öffentliche Nahverkehr kam vollständig zum Erliegen. Besonders betroffen waren Schulwege und Pendlerverbindungen – zahlreiche Schülerinnen und Schüler sowie Berufspendler mussten kurzfristig auf private Alternativen ausweichen oder blieben ganz zu Hause.
„Der Tag war chaotisch. Ohne Bus kam mein Sohn nicht zur Schule. Wir mussten ihn spontan mit dem Auto bringen – zum Glück hatte ich frei“, berichtete eine betroffene Mutter aus Quedlinburg. Gleichzeitig äußerten sich viele Fahrgäste solidarisch mit den streikenden Beschäftigten. „Die Leute machen einen harten Job für wenig Geld – da muss sich was tun.“
Verhandlungslage: Annäherung mit ungewissem Ausgang
Auch wenn die nächste Verhandlungsrunde für den 10. Juni angesetzt ist, bleibt unklar, ob sie zu einem greifbaren Ergebnis führen wird. Zwar wurden nach außen hin moderate Fortschritte signalisiert, doch eine tragfähige Einigung steht weiterhin aus. Der Ton bleibt rau: Während ver.di betont, dass ohne substanzielle Angebote weitere Streiks nicht ausgeschlossen seien, kritisiert die Arbeitgeberseite die Arbeitsniederlegungen scharf.
„Streiks führen nicht zum Ziel. Nur am Verhandlungstisch können wir Lösungen finden“, erklärte Uwe Gaßmann vom AVN. „Jede Streikankündigung zerstört Vertrauen – sowohl zwischen den Tarifparteien als auch bei den Fahrgästen.“
Fachkräftemangel verschärft die Situation
Hinzu kommt: Die aktuelle Personalsituation ist angespannt. Bereits jetzt berichten die Verkehrsbetriebe im Harz über Schwierigkeiten, ausreichend qualifiziertes Fahrpersonal zu finden. Die vergleichsweise niedrige Bezahlung in der Region gilt als einer der Hauptgründe dafür. In diesem Kontext könnte eine spürbare Lohnsteigerung auch helfen, die Attraktivität des Berufsbilds zu erhöhen und langfristig den Betrieb zu sichern.
„Wenn wir nicht bald bessere Arbeitsbedingungen schaffen, stehen bald noch mehr Busse still – aber nicht wegen Streiks, sondern weil niemand mehr da ist, der sie fährt“, warnte ein Personalverantwortlicher der HVB.
Der Blick nach Niedersachsen: Ein möglicher Kompromiss?
Ein Blick über die Landesgrenze zeigt, wie es gehen könnte: In Niedersachsen wurde vor wenigen Wochen ein Tarifabschluss erzielt, der eine stufenweise Lohnerhöhung von 4 Prozent ab Juli 2025 und weiteren 3 Prozent im Folgejahr vorsieht – dazu eine Einmalzahlung und eine Laufzeit bis Mitte 2027. Damit wurde dort ein drohender Flächenstreik abgewendet. Dieses Modell dient nun als Orientierung auch für die laufenden Gespräche im Harz.
Vergleich: Tarifabschluss Niedersachsen vs. Forderung Harz
Region | Erhöhung (gesamt) | Laufzeit | Einmalzahlung |
---|---|---|---|
Niedersachsen | +7 % (4 % + 3 %) | bis Mitte 2027 | Ja |
Harz (Forderung ver.di) | +8–14 % | Offen | +50 € mtl. für Mitglieder |
Ein solcher Abschluss würde im Harz voraussichtlich auf Zustimmung stoßen – vorausgesetzt, die Arbeitgeber zeigen sich kompromissbereit.
Regionale Folgen: Wenn der Bus nicht mehr fährt
Die Auswirkungen des Konflikts auf die Bevölkerung sind bereits jetzt spürbar – vor allem in ländlichen Gebieten wie dem Harz, wo der ÖPNV eine tragende Rolle spielt. Viele Orte sind nur mit dem Bus oder der Straßenbahn erreichbar. Fällt der Nahverkehr aus, entsteht nicht nur ein Mobilitätsproblem – sondern auch ein soziales.
„Gerade ältere Menschen ohne Auto sind auf den Bus angewiesen. Streiks treffen sie am härtesten“, so ein Gemeinderatsmitglied aus Blankenburg.
Streikfolgen auf Umwelt und Verkehr
Abseits der sozialen Auswirkungen rufen Streiks auch ökologische und verkehrstechnische Probleme hervor. Studien aus anderen europäischen Regionen belegen: Wenn der ÖPNV streikt, steigt die Nutzung von Autos signifikant – was nicht nur den CO₂-Ausstoß erhöht, sondern auch Staus, Lärm und Unfallrisiken.
- Mehr Autoverkehr in ländlichen Gebieten durch kurzfristige Umstiege
- Längere Reisezeiten durch erhöhte Straßenbelastung
- Steigende Emissionen unterlaufen lokale Klimaziele
Damit wird deutlich: Der Tarifstreit hat nicht nur betriebsinterne, sondern auch weitreichende gesellschaftliche und ökologische Folgen.
Tourismus unter Druck
Auch der Tourismus, eine wichtige wirtschaftliche Säule im Harz, gerät durch die Unsicherheit unter Druck. Mit über 2,5 Millionen Übernachtungen jährlich ist die Region auf funktionierende Verkehrsverbindungen angewiesen – insbesondere für Tagesgäste, Wandergruppen und Seniorenreisen. Wiederholte Streiks könnten das Image der Region als „entspanntes Reiseziel“ langfristig beschädigen.
Reiseveranstalter befürchten bereits Buchungsrückgänge, sollte sich der Tarifkonflikt weiter hinziehen. „Wer nicht sicher sein kann, dass er von Wernigerode nach Thale kommt, bucht seinen Urlaub vielleicht lieber anderswo“, warnt ein Vertreter des regionalen Tourismusverbands.
Langfristige Fragen bleiben offen
Während die kurzfristigen Folgen des Tarifkonflikts sichtbar sind, bleiben langfristige Effekte unklar. Wie verändert sich das Mobilitätsverhalten in einer Region, wenn Streiks regelmäßig den Nahverkehr unterbrechen? Gibt es ein schleichendes Abwenden vom ÖPNV – auch unabhängig vom Konflikt? Oder entsteht durch die öffentliche Aufmerksamkeit langfristig mehr politischer und gesellschaftlicher Druck für bessere Löhne und attraktivere Arbeitsbedingungen im Nahverkehr?
Bislang fehlen dazu valide Langzeitstudien – insbesondere für ländliche Regionen wie den Harz. Was sicher ist: Ein nachhaltiger ÖPNV benötigt Stabilität, Planungssicherheit und gesellschaftliche Akzeptanz. Wiederkehrende Streiks könnten all das gefährden.
Fazit: Die Zeit drängt
Der Tarifkonflikt im Harzer Nahverkehr ist mehr als ein Streit um Prozente. Er berührt soziale Gerechtigkeit, regionale Infrastruktur, touristische Wertschöpfung und ökologische Nachhaltigkeit. Die kommende Verhandlungsrunde am 10. Juni wird daher nicht nur für die Beteiligten entscheidend sein – sondern auch für Tausende Menschen, die täglich auf den Nahverkehr angewiesen sind.
Ob es gelingt, einen Kompromiss zu finden, der allen Seiten gerecht wird, bleibt offen. Sicher ist nur: Die Zeit drängt. Denn mit jedem Streiktag wächst nicht nur der Druck auf die Arbeitgeber – sondern auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung.