
Halberstadt, 3. Juni 2025, 09:00 Uhr
Bild exemplarisch
In der beschaulichen Stadt Halberstadt im Harz spielt sich seit über zwei Jahrzehnten ein musikalisches und kulturelles Experiment ab, das weltweit seinesgleichen sucht: das „ORGAN²/ASLSP“-Projekt von John Cage. Der Name steht für „As Slow As Possible“ – und genau das ist Programm. Seit dem 5. September 2001 wird hier in der Sankt-Burchardi-Kirche ein einziges Musikstück aufgeführt – mit einer geplanten Dauer von 639 Jahren. Es ist ein Ereignis, das Philosophie, Musik, Zeitwahrnehmung und Generationendenken miteinander verbindet.
Die Entstehung eines Jahrhundertprojekts
John Cage, ein Pionier der experimentellen Musik des 20. Jahrhunderts, komponierte das Werk 1985 ursprünglich für Klavier. Später wurde es für Orgel adaptiert, was dem Konzept „so langsam wie möglich“ eine neue Bedeutung verlieh – denn eine Orgel kann Töne theoretisch unbegrenzt halten. Der deutsche Musikwissenschaftler Gerd Zacher übertrug das Werk auf die Orgel, und eine Gruppe von Enthusiasten in Halberstadt begann, das Unvorstellbare umzusetzen: eine Aufführung über mehrere Jahrhunderte.
Warum 639 Jahre?
Die Wahl der Dauer ist historisch begründet: Im Jahr 1361 wurde in Halberstadt die erste große Orgel im heutigen Sinne gebaut. Von diesem Jahr bis zum Projektbeginn 2000 vergingen 639 Jahre – also wurde entschieden, das Stück ebenso lange spielen zu lassen.
Ein Tonwechsel alle paar Jahre
Während bei herkömmlichen Musikstücken Sekunden oder Minuten über die Dramaturgie entscheiden, denkt man in Halberstadt in Jahrzehnten. Der aktuelle Klangwechsel fand am 5. Februar 2022 statt, als der Ton „d“ hinzugefügt wurde. Dieser wird nun über sechs Jahre hinweg – bis zum 5. August 2028 – erklingen. Solche Klangwechsel sind seltene Ereignisse, die international Aufmerksamkeit erregen. Besucher reisen aus der ganzen Welt an, um diesen Moment zu erleben, bei dem sich ein einziges Element der Klanglandschaft verändert.
Ein Orgelklang, der Generationen überdauert
Die Orgel, die für dieses Projekt verwendet wird, wurde eigens für diese Aufgabe konzipiert und wird kontinuierlich erweitert. Sie besteht aus Pfeifen, Tasten, Motoren und Gewichten – darunter Sandsäcke, die dauerhaft Tasten gedrückt halten. Die Stromversorgung wird durch ein Back-up-System abgesichert, um technische Ausfälle zu vermeiden.
Wartung über Jahrhunderte
Die Orgel und das Projekt erfordern laufende Wartung, Organisation und eine Weitergabe von Wissen über Generationen hinweg. Jedes Klangereignis muss exakt vorbereitet werden, und schon kleinste Fehler – wie die versehentliche Entfernung einer Pfeife durch ein Filmteam – werden protokolliert, mit Humor genommen und dokumentiert.
Die Finanzierung: Ein Ton für 2.640 Euro
Ein derart langfristiges Projekt kann nicht ohne kontinuierliche finanzielle Unterstützung bestehen. Deshalb hat die John-Cage-Orgel-Stiftung ein besonderes Mittel gewählt: den Vorverkauf exklusiver Eintrittskarten für das letzte Konzert im Jahr 2640. Die Tickets kosten 2.640 Euro pro Stück – ein Euro für jedes Jahr des Projekts – und gelten als Sammlerstücke mit symbolischem und möglicherweise langfristigem materiellem Wert. Sie sind übertragbar und werden aus Metall in einer Werkstatt in Brandenburg hergestellt.
Weitere Einnahmequellen
Neben dem Ticketverkauf finanziert sich das Projekt über Spenden, Förderprogramme wie „very much cage“ und Mitgliedsbeiträge. Letztere bieten den Unterstützern unter anderem freien Zugang zu Klangwechsel-Ereignissen. Trotzdem warnt die Stiftung regelmäßig vor finanziellen Engpässen: Teilweise reichten die Mittel nur für ein bis zwei Jahre Betrieb im Voraus.
Kunst trifft Philosophie: Der kulturelle Wert
Das Halberstädter Orgelprojekt ist nicht nur ein Musikstück – es ist ein Symbol. Es thematisiert unsere Wahrnehmung von Zeit und fordert den Betrachter heraus, sich mit Begriffen wie Geduld, Vergänglichkeit und kulturellem Erbe auseinanderzusetzen. Das Werk ist kein abgeschlossenes Ganzes, sondern ein Prozess, der sich über Jahrhunderte entfaltet.
„Es ist ein Geschenk an die Zukunft – mit der Hoffnung, dass zukünftige Generationen unsere kulturellen Spuren nicht nur bewahren, sondern weiterdenken.“ – Aussage eines Projektbeteiligten
Ein Projekt jenseits des Jetzt
Die Entscheidung, ein Musikstück über fast sieben Jahrhunderte hinweg aufzuführen, ist eine radikale Absage an den schnellen Konsum kultureller Inhalte. Es zwingt uns zur Langsamkeit, zur Kontemplation und zur Auseinandersetzung mit unserer eigenen Endlichkeit.
Internationale Rezeption
Das Projekt ist mittlerweile ein kultureller Pilgerort. Besucher aus Japan, den USA, Frankreich oder Brasilien kommen nach Halberstadt, um dieses außergewöhnliche Kunstwerk zu erleben. Internationale Medien berichten regelmäßig, und selbst renommierte Musikzeitschriften und Philosophiejournale widmen dem Projekt Sonderseiten.
Gesellschaftliche Relevanz und lokale Wirkung
Auch lokal wirkt das Projekt nachhaltig. Es zieht Touristen an, füllt Hotels und Cafés und verschafft Halberstadt internationale Bekanntheit. Der Klangwechsel ist mittlerweile ein mediales Ereignis mit Vorträgen, Konzerten und Begegnungen.
Nachhaltigkeit und Verantwortung
Ein Projekt über 639 Jahre muss mit Unsicherheiten leben. Gesellschaftliche Umbrüche, klimatische Veränderungen oder technologische Entwicklungen könnten das Projekt gefährden – oder bereichern. Die Organisatoren setzen auf detaillierte Archivierung, solide Dokumentation und die Schulung zukünftiger Generationen.
Kritik und Diskussionen
Trotz aller Bewunderung gibt es auch kritische Stimmen. Einige sehen in der Überlänge des Werks eine Überdehnung von Cage’s Intentionen, andere halten das Projekt für schwer zugänglich oder elitär. Die Frage, ob ein Kunstwerk über 600 Jahre hinweg seine Relevanz behalten kann, bleibt offen – und macht gerade das Projekt so spannend.
Gegenpositionen im Überblick
Kritikpunkt | Antwort des Projekts |
---|---|
Verzerrung von Cage’s ursprünglichem Gedanken | Das Projekt ist eine bewusste Interpretation, keine Rekonstruktion. |
Geringe öffentliche Zugänglichkeit | Regelmäßige Veranstaltungen, Führungen und Klangwechsel öffnen das Projekt. |
Ungewisse Zukunftssicherung | Langfristige Planungen, digitale Archive und internationale Vernetzung sichern das Fortbestehen. |
Fazit: Ein Stück Musikgeschichte – in Zeitlupe
Das John-Cage-Orgelprojekt in Halberstadt ist ein Monument des Denkens, Hörens und Planens. Es verbindet Musik mit Zeitphilosophie, Kunst mit Verantwortung und Klang mit Generationen. Es ist kein Projekt für den Moment – sondern für Jahrhunderte. Wer einen einzigen Ton hören will, braucht Geduld. Wer es erlebt, wird Teil eines der außergewöhnlichsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte.