
Schönebeck im Harz
Rentnerpaar lebt in Angst: Wenn der Enkel zum Terror wird
Ein Fall aus Schönebeck erschüttert derzeit die Region: Ein älteres Ehepaar lebt seit über einem Jahr in ständiger Angst – vor dem eigenen Enkel. Der junge Mann bedroht, drangsaliert und kontrolliert seine Großeltern in einer Art und Weise, die Polizei und Nachbarschaft längst alarmiert hat. Doch das Beispiel wirft ein noch größeres Licht auf ein Thema, das in der deutschen Gesellschaft kaum sichtbar ist: Gewalt gegen ältere Menschen im familiären Umfeld. Was wie ein Einzelfall klingt, ist für viele Senioren in Deutschland bittere Realität – verborgen im Schatten von Scham, Ohnmacht und fehlender öffentlicher Wahrnehmung.
Der Fall Schönebeck: Wenn Nähe zur Bedrohung wird
Die Details des Falls sind erschütternd: Das betroffene Ehepaar lebt seit Jahrzehnten in Schönebeck, ein eher beschauliches Städtchen in Sachsen-Anhalt. Als ihr erwachsener Enkel nach familiären Spannungen wieder bei ihnen einzog, glaubten sie zunächst, ihm eine zweite Chance zu geben. Doch es entwickelte sich ein Albtraum. Nachbarn berichten von lautstarken Streitigkeiten, eingeschlagenen Fenstern, regelmäßigen Polizeieinsätzen. Der Enkel sei unberechenbar, aggressiv – und die Großeltern völlig ausgeliefert.
Die Polizei bestätigte inzwischen mehrere Einsätze im betroffenen Haushalt. Laut eigenen Angaben sei die Situation bekannt, allerdings ohne richterliche Anordnung oder dringende Gefahreneinschätzung oft nur schwer zu lösen. Für das Paar bleibt die Konsequenz bitter: Leben in ständiger Alarmbereitschaft.
Ein gesellschaftliches Problem mit Dunkelziffer
Auch wenn der Fall Schönebeck aktuell besonders im Fokus steht – Gewalt gegen ältere Menschen ist längst kein Einzelfall mehr. Die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2023 weist rund 15.720 Opfer von Gewalt ab 60 Jahren aus. Das entspricht etwa 6,2 Prozent aller registrierten Gewaltdelikte mit Opferbeteiligung. Doch Expertinnen und Experten gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.
Verschiedene Studien schätzen, dass etwa 4 bis 9 Prozent der über 65-Jährigen in Deutschland von körperlicher oder psychischer Gewalt betroffen sind – in den meisten Fällen im familiären Kontext. Besonders tragisch: Oft sind es gerade jene Menschen, die den Opfern am nächsten stehen, die zu Tätern werden. Kinder, Enkel, Lebenspartner.
Typische Formen von Gewalt gegen ältere Menschen
- Psychische Gewalt: Einschüchterung, Beleidigung, Isolation, Drohung
- Körperliche Gewalt: Schubsen, Schlagen, Verletzungen durch Vernachlässigung
- Finanzielle Ausbeutung: Kontozugriff, Unterschlagung von Renten, Erbschleicherei
- Vernachlässigung: Unterlassene Pflege, fehlende medizinische Versorgung
Psychische Gewalt – die stille Form des Missbrauchs
Im Fall Schönebeck geht es vorrangig um psychische Gewalt. Der Enkel droht, kontrolliert, beschimpft – und sorgt für ein Klima permanenter Angst. Diese Form des Missbrauchs ist besonders schwer zu erkennen, da sie ohne sichtbare Spuren auskommt. Experten sprechen hier von sogenannten subtilen Gewaltformen, zu denen auch emotionale Erpressung, Isolation oder Gaslighting gehören.
Viele Senioren schämen sich, Hilfe zu suchen. Die Täter sind Familienmitglieder, denen sie einst vertrauten. Das Gefühl, versagt zu haben, lähmt viele Betroffene – genauso wie die Angst, den familiären Frieden durch eine Anzeige endgültig zu zerstören.
„Ich habe ihn doch geliebt. Er war unser Enkel. Wie konnte er so werden?“ – Zitat einer anonymen Betroffenen aus einer Opferhilfeberatung.
Ein gesellschaftliches Tabuthema
Anders als bei häuslicher Gewalt gegen Frauen ist die gesellschaftliche Sensibilisierung für ältere Gewaltopfer gering. Während Aufklärungskampagnen, Notfalltelefone und öffentliche Diskussionen für weibliche Opfer etabliert sind, fehlt für Senioren eine vergleichbare Infrastruktur. Dabei ist die Abhängigkeit älterer Menschen besonders hoch – sei es finanziell, emotional oder durch pflegerische Betreuung.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass weltweit etwa jeder sechste ältere Mensch mindestens einmal Opfer psychischer Gewalt wird. In vielen Fällen bleibt es nicht dabei: Psychische Gewalt geht nicht selten mit körperlicher oder finanzieller Ausbeutung einher.
Die Rolle pflegender Angehöriger
Ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor für Gewalt gegen Senioren ist die Belastungssituation pflegender Angehöriger. Überforderung, psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen in der Familie können das Gewaltpotenzial massiv erhöhen. Gerade dann, wenn die Pflege älterer Familienmitglieder ohne professionelle Unterstützung erfolgt, steigen die Risiken – besonders wenn alte Konflikte nie aufgearbeitet wurden.
In Deutschland erfolgt der Großteil der Pflege im häuslichen Umfeld. Laut Daten des Statistischen Bundesamts werden etwa 80 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen zu Hause betreut – oft durch Angehörige. Die Gefahr für Missbrauch ist unter solchen Bedingungen real und steigt mit der Dauer der Belastung.
Warum melden Opfer nichts?
Die Gründe, warum Gewalt gegen ältere Menschen selten angezeigt wird, sind vielfältig. Zu den häufigsten zählen:
- Scham: Viele fühlen sich selbst verantwortlich oder glauben, gescheitert zu sein.
- Abhängigkeit: Emotionale oder finanzielle Bindung an den Täter hindert an Anzeige.
- Angst: Furcht vor Vergeltung oder dem Zerbrechen familiärer Strukturen.
- Fehlende Kenntnis: Viele wissen nicht, wohin sie sich wenden können.
Die Folge: Ein massives Dunkelfeld, das die eigentliche Dimension des Problems verdeckt.
Psychosoziale Folgen für Betroffene
Die Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit älterer Gewaltopfer sind gravierend. Studien zeigen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Schlafstörungen, Angstzustände, Einsamkeit und einen massiven Rückgang des allgemeinen Wohlbefindens. Auch die Lebenserwartung kann durch anhaltenden Stress und Isolation negativ beeinflusst werden.
Was getan werden muss – Prävention und Hilfe
Deutschland verfügt über zahlreiche Einzelinitiativen und Projekte zur Gewaltprävention. Beratungsstellen wie „Weißer Ring“ oder kommunale Opferhilfen leisten wichtige Arbeit. Doch bislang fehlt eine zusammenhängende, bundesweite Strategie, die speziell auf ältere Opfer zugeschnitten ist. Es bedarf gezielter Programme zur Früherkennung, öffentlicher Aufklärung sowie eines besser abgestimmten Hilfesystems.
Präventionsmaßnahmen im Überblick
Maßnahme | Beschreibung |
---|---|
Schulungen für Pflegekräfte | Erkennung und Meldung von Gewaltzeichen |
Hotlines für Senioren | Niedrigschwellige Hilfeangebote |
Öffentlichkeitsarbeit | Aufklärungskampagnen zur Enttabuisierung |
Koordination mit Polizei & Justiz | Schnellere Maßnahmen bei Anzeigen |
Der Fall Schönebeck steht für viele stille Dramen
Was in Schönebeck sichtbar wurde, ist nur ein Symptom eines viel größeren Problems. Gewalt gegen ältere Menschen – ob psychisch, physisch oder finanziell – ist ein tabuisiertes Thema. Die Gesellschaft muss lernen, genauer hinzusehen, Strukturen zu schaffen und vor allem eines zu tun: den Betroffenen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Denn niemand sollte seinen Lebensabend in Angst verbringen – schon gar nicht durch die eigene Familie.