Wernigerode, 02. Juni 2025, 08:00 Uhr
In der sonst für ihre malerische Ruhe bekannten Harzstadt Wernigerode ist ein Konflikt entbrannt, der Licht ins Dunkel bringt – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Thema: die nächtliche Beleuchtung des Konzerthauses Liebfrauen. Anwohner beklagen sich seit Wochen über eine aus ihrer Sicht übermäßige Illumination der historischen Veranstaltungsstätte, die bis in die Nachtstunden hinein Licht in ihre Schlafzimmer wirft. Was für manche ein ästhetischer und sicherheitsrelevanter Aspekt ist, bedeutet für andere schlaflose Nächte und Unverständnis. Doch hinter dem Streit verbergen sich tiefere Fragen – über Denkmalpflege, Tourismus, Sicherheit und Nachbarschaft.
Ein kulturelles Schmuckstück mit Schattenseite
Das Konzerthaus Liebfrauen ist eines der architektonischen Aushängeschilder Wernigerodes. Die ehemalige Barockkirche wurde nach einer umfassenden Sanierung im Jahr 2022 als kulturelles Zentrum mit klassischer und moderner Konzertausrichtung wiedereröffnet. Seither hat sich das Haus zu einem gefragten Ort für Veranstaltungen entwickelt – vom klassischen Sinfoniekonzert bis hin zur Lesung. Im Zuge der Neugestaltung wurde auch eine umfangreiche Außenbeleuchtung installiert, die insbesondere die Struktur und Fassade des geschichtsträchtigen Gebäudes betonen soll.
Diese Lichtinszenierung bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die direkte Nachbarschaft. Anwohner mehrerer umliegender Straßen beklagen eine erhebliche Lichtverschmutzung durch die nächtliche Dauerbeleuchtung. „Es ist, als ob ein Autoscheinwerfer die ganze Nacht auf mein Fenster gerichtet ist“, sagt eine Anwohnerin, die in der Nähe des Konzerthauses lebt. Andere berichten von gestörtem Schlaf, Kopfschmerzen und wachsendem Unmut.
Die Sicht der Betreiber: Sicherheit vor allem
Die Wernigerode Tourismus GmbH, die das Konzerthaus betreibt, zeigt Verständnis für die Sorgen der Anwohner, verweist jedoch auf praktische Gründe für die Beleuchtung. Der wichtigste: Schutz vor Vandalismus. Seit der Wiedereröffnung sei es bereits mehrfach zu Sachbeschädigungen an der Fassade gekommen. Die Beleuchtung sei Teil eines Sicherheitskonzepts, das solche Vorfälle verhindern soll. Zudem sei die Inszenierung ein wichtiger Bestandteil des städtischen Tourismusmarketings.
„Das Konzerthaus ist nicht nur ein Ort der Musik, sondern ein Wahrzeichen unserer Stadt“, erklärt eine Sprecherin der GmbH. „Die Beleuchtung hat nicht nur funktionalen, sondern auch ästhetischen und identitätsstiftenden Charakter.“
Ein Konflikt mit vielen Ebenen
Der Streit wirft Fragen auf, die weit über den Einzelfall hinausgehen: Wie viel Öffentlichkeit darf ein öffentlicher Raum haben – und wie viel Rücksicht ist auf Privatsphäre geboten? Welche Rolle spielt Lichtverschmutzung im städtischen Raum? Und wie kann ein Kompromiss zwischen kulturellem Anspruch und Lebensqualität aussehen?
Lichtverschmutzung: Ein unterschätztes Umweltproblem
In Deutschland wird Lichtverschmutzung als zunehmendes Problem wahrgenommen. Studien zeigen, dass übermäßige künstliche Beleuchtung nicht nur die menschliche Gesundheit beeinflusst, sondern auch die Tierwelt, insbesondere nachtaktive Arten wie Fledermäuse oder Insekten. Der NABU und andere Umweltorganisationen fordern seit Jahren gesetzliche Regelungen zur Reduktion von Lichtemissionen – bislang mit begrenztem Erfolg.
Für Wernigerode könnte der Konflikt rund um das Konzerthaus daher ein exemplarischer Fall sein. Die Stadt, die sich gerne als „bunte Stadt am Harz“ präsentiert, steht vor der Herausforderung, ihre kulturellen Angebote mit dem Anspruch auf nachhaltige Stadtentwicklung zu verbinden.
Anwohner fordern Einschränkungen
Die betroffenen Anwohner fordern unterdessen konkrete Maßnahmen: eine Abschaltung der Beleuchtung nach 22 Uhr, eine Reduktion der Lichtintensität oder zumindest bewegungssensitive Beleuchtungssysteme. Bisher habe es Gespräche mit der Stadtverwaltung gegeben, aber noch keine konkreten Ergebnisse. Ein Bewohner bringt es auf den Punkt: „Ich bin nicht gegen das Konzerthaus, im Gegenteil. Aber es muss möglich sein, kulturelle Angebote so zu gestalten, dass sie nicht zur Belastung werden.“
Mögliche Lösungsansätze
Ein Blick auf andere Städte zeigt: Es gibt Wege, wie solche Konflikte gelöst werden können. In Potsdam wurde bei der Sanierung historischer Gebäude LED-Technik mit variabler Lichttemperatur eingesetzt, die sich automatisch den Tageszeiten anpasst. In Leipzig wurde die nächtliche Beleuchtung öffentlicher Gebäude per Zeitschaltung geregelt, sodass die Lichter um Mitternacht automatisch gedimmt oder ausgeschaltet werden.
Für Wernigerode könnten solche technischen Lösungen ebenfalls in Betracht kommen. Auch eine gezielte Abschirmung der Lichtquellen oder der Einsatz von Blendfiltern könnte helfen, die Lichtemissionen in Richtung der Wohngebäude zu verringern.
Sicherheit vs. Ruhebedürfnis – eine Abwägung
Der Sicherheitsaspekt ist nicht von der Hand zu weisen. Beleuchtete Plätze werden laut polizeilichen Statistiken seltener zum Tatort von Vandalismus oder Diebstählen als schlecht beleuchtete Areale. Gleichzeitig darf die Sicherheit des Gebäudes nicht höher bewertet werden als das Wohlbefinden der Anwohner – so die Argumentation der Kritiker.
In einer anonymen Online-Umfrage unter Bürgern der Stadt sprachen sich 62 % der Teilnehmer für eine nächtliche Abschaltung ab 23 Uhr aus. 21 % bevorzugten eine komplette Abschaltung, 17 % hielten die Beleuchtung für notwendig. Dieses Meinungsbild zeigt: Die Mehrheit wünscht sich einen Ausgleich, kein radikales Vorgehen.
Tourismus und Stadtmarketing im Spannungsfeld
Für die Stadt Wernigerode ist das Konzerthaus ein zentraler Bestandteil ihrer touristischen Identität. Jährlich besuchen Tausende Gäste den Ort – auch wegen seiner historischen Architektur. Die nächtliche Beleuchtung trägt zur Inszenierung dieser Attraktionen bei. Kritiker werfen jedoch ein, dass sich Tourismus nicht gegen die Interessen der Bevölkerung stellen darf.
Ein ausgewogenes Stadtmarketing müsse beide Seiten berücksichtigen: die ästhetischen Anforderungen und das Bedürfnis nach Lebensqualität. In einem aktuellen Stadtentwicklungsbericht der Harzregion wird gefordert, Tourismuskonzepte in Zukunft stärker partizipativ und unter Einbeziehung von Anwohnerinteressen zu entwickeln.
Fazit: Der Dialog ist erst der Anfang
Der Lichtstreit in Wernigerode ist mehr als nur ein lokales Ärgernis. Er ist ein Symbol für das Spannungsfeld zwischen Moderne und Rücksichtnahme, zwischen öffentlichem Raum und privatem Lebensgefühl. Die Stadt hat nun die Möglichkeit, durch transparente Kommunikation und technische Innovationen einen Ausgleich zu schaffen.
Dazu braucht es nicht nur technische Lösungen, sondern auch den politischen Willen, neue Wege zu gehen. Derzeit plant die Stadtverwaltung, im Rahmen eines öffentlichen Forums Anwohner, Tourismusvertreter und Umweltexperten an einen Tisch zu bringen. Ob dies der Anfang einer tragfähigen Lösung oder nur ein weiterer Lichtschein in der Debatte ist, wird sich zeigen.
Eines aber steht fest: Wer Licht ins Dunkel bringt, sollte darauf achten, dass es nicht blendet.