
Goslar, 04. Juni 2025, 08:30 Uhr
Im Landkreis Goslar hat eine neue Studie zur Umweltmedizin für große Besorgnis gesorgt: Über die Hälfte der untersuchten Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren weist erhöhte Bleikonzentrationen im Blut auf – ein Wert, der im Bundesvergleich etwa dem Zehnfachen entspricht. Die Ergebnisse der sogenannten BLENCA2-Studie werfen nicht nur ein Licht auf regionale Altlasten, sondern auch auf ein global unterschätztes Gesundheitsrisiko.
Informationen zur Studie: hier
Mehr als ein lokales Problem: Die Faktenlage
Zwischen September 2023 und Juni 2024 untersuchten Umweltmediziner in Goslar insgesamt 310 Kinder. Das Ergebnis: Bei 51 Prozent von ihnen wurde der Referenzwert für Bleikonzentration im Blut überschritten. Der durchschnittliche Wert lag bei 22,7 Mikrogramm pro Liter. Zum Vergleich: Der bundesweite Durchschnitt liegt bei unter 5 Mikrogramm pro Liter. Zwar ist damit der kritische WHO-Richtwert von 50 Mikrogramm nicht erreicht, doch Experten warnen, dass es bei Kindern keinen unbedenklichen Blutbleiwert gibt.
Altlasten aus dem Bergbau als Hauptursache
Die Hauptursache für die erhöhte Bleibelastung im Harz ist historischer Natur. Die Region um den Rammelsberg war jahrhundertelang Zentrum des Bergbaus. Die intensive Erzförderung hat zu einer dauerhaften Kontamination der Böden geführt. Vor allem auf Spielplätzen, in Gärten und Waldgebieten finden sich erhöhte Konzentrationen von Schwermetallen – insbesondere Blei. Kinder, die draußen spielen, nehmen das giftige Schwermetall meist unbewusst über verschmutzte Hände oder kontaminierte Gegenstände auf.
Besonders gefährdet: Kinder in Bodennähe
Die erhöhte Bleiaufnahme bei Kindern erklärt sich durch ihr typisches Verhalten: Spielen im Freien, häufiges Hand-Mund-Kontaktverhalten und eine erhöhte Atemfrequenz machen sie besonders anfällig. Zudem nimmt der kindliche Organismus Blei deutlich effizienter auf als ein erwachsener Körper.
Gesundheitliche Folgen: Eine schleichende Gefahr
Die Risiken für Kinder mit erhöhter Bleikonzentration im Blut sind vielfältig. Zahlreiche Studien belegen, dass bereits geringe Mengen Blei im Körper zu langfristigen Schädigungen führen können. Besonders betroffen sind dabei das zentrale Nervensystem, die Nieren und das blutbildende System. Folgende Krankheitsbilder werden mit einer chronischen Bleibelastung in Verbindung gebracht:
- Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung
- Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen
- Niedrigere Intelligenzwerte im Schulalter
- Spätfolgen wie Bluthochdruck, Nierenschäden und Krebsrisiken
„Es gibt keinen unbedenklichen Blutbleiwert bei Kindern. Schon geringe Mengen können zu irreversiblen Schäden führen.“
Vergleich mit internationalen Erkenntnissen
Die Problematik ist keineswegs auf Goslar oder Deutschland beschränkt. Ein Bericht von UNICEF und der Umweltschutzorganisation Pure Earth schätzt, dass weltweit etwa 800 Millionen Kinder von erhöhten Bleiwerten betroffen sind – das entspricht etwa einem Drittel aller Kinder weltweit. Besonders dramatisch ist die Situation in Regionen mit aktiver oder historischer Industrieproduktion, etwa in Südasien, Westafrika oder den südlichen USA.
Auch in den Vereinigten Staaten zeigen Studien, dass über die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren Spuren von Blei im Blut haben. In vielen Fällen stammen die Belastungen dort aus alten Bleiwasserrohren, bleihaltigen Farben in Gebäuden oder aus Emissionen der Schwerindustrie. Gemeinsam ist all diesen Fällen: Die betroffenen Familien leben häufig in sozial benachteiligten Verhältnissen.
Historische Präzedenzfälle: Lehren aus der Vergangenheit
Der Fall Goslar erinnert auch an andere belastete Regionen in Deutschland. In Stolberg bei Aachen wurde in den 1970er Jahren eine auffällige Häufung von Bleivergiftungen bei Kindern dokumentiert – verursacht durch einen nahegelegenen Blei verarbeitenden Betrieb. Damals kam es zu medienwirksamen Protesten und einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Heute gilt Stolberg als ein mahnendes Beispiel für die Notwendigkeit schneller politischer und medizinischer Reaktionen.
Regionale Reaktion: Erste Maßnahmen des Landkreises
Der Landkreis Goslar hat umgehend reagiert und eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen. Zwar seien laut Gesundheitsamt keine akuten Symptome bei den betroffenen Kindern aufgetreten, doch die langfristige Belastung sei besorgniserregend. Die Eltern wurden über Risiken und Schutzmaßnahmen informiert. Die wichtigsten Empfehlungen lauten:
- Händewaschen nach dem Spielen im Freien – besonders vor dem Essen
- Regelmäßige Reinigung von Spielzeug und Kleidung
- Vermeidung von Gartenarbeit oder Spielen auf unbekannten Böden
- Verzehr von selbst angebautem Obst und Gemüse nur nach Bodenprüfung
Zudem sollen besonders belastete Flächen identifiziert und gegebenenfalls gesperrt werden. Für betroffene Familien sind weiterführende Blutuntersuchungen geplant.
Langfristige Lösungsansätze: Prävention statt Panik
Die BLENCA2-Studie verfolgt das Ziel, nicht nur die Belastung zu messen, sondern auch die genauen Aufnahmewege von Blei zu identifizieren. Nur so lassen sich langfristige, gezielte Maßnahmen ergreifen. Experten empfehlen eine Kombination aus baulichen, pädagogischen und medizinischen Maßnahmen:
Technische und ökologische Lösungen
- Sanierung kontaminierter Böden
- Installation von Barrieren und Bodenabdeckungen auf Spielplätzen
- Analyse der Trinkwasserversorgung auf mögliche Bleiquellen
Aufklärung und Monitoring
- Regelmäßige Aufklärungskampagnen in Kitas und Grundschulen
- Langfristige Biomonitoring-Programme zur Kontrolle der Blutwerte
- Transparente Kommunikation über Risiken und Maßnahmen
Ein unterschätztes Umweltproblem mit globaler Tragweite
Der Fall Goslar zeigt exemplarisch, wie jahrhundertealte Umweltbelastungen noch heute die Gesundheit ganzer Generationen beeinträchtigen können. Dabei steht der Landkreis nicht allein: Weltweit kämpfen Gemeinden mit den Spätfolgen industrieller Entwicklung. Die Kombination aus lokalem Umweltmonitoring, internationalem Wissenstransfer und präventiver Gesundheitsarbeit ist entscheidend für den Schutz der nächsten Generation.
Fazit: Frühzeitiges Handeln schützt die Zukunft
Die Erkenntnisse aus Goslar dürfen kein Anlass für Panik sein, wohl aber für konsequentes Handeln. Denn klar ist: Blei im Blut ist ein ernst zu nehmender Risikofaktor für die gesunde Entwicklung von Kindern. Politik, Wissenschaft und Gesellschaft müssen gemeinsam daran arbeiten, die Quellen der Belastung zu identifizieren, die Gefährdung zu minimieren und die Kinder in belasteten Regionen aktiv zu schützen. Die Vergangenheit kann man nicht ändern – aber die Zukunft gestalten.