
Begriffsklärung: Was bedeutet “Pflegebedürftigkeit”?
Pflegebedürftigkeit im Sinne des Elften Sozialgesetzbuches (SGB XI) liegt dann vor, wenn Menschen gesundheitlich bedingt dauerhaft auf Unterstützung bei der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität oder der hauswirtschaftlichen Versorgung angewiesen sind. Seit der Pflegereform 2017 wird diese Pflegebedürftigkeit in fünf Pflegegrade eingeteilt, die sowohl körperliche als auch geistige Einschränkungen berücksichtigen.
Demografischer Wandel als Treiber
Die Region Harz ist wie viele ländliche Gebiete in Deutschland besonders stark vom demografischen Wandel betroffen. Die Altersstruktur zeigt eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Personen über 65 Jahren. Laut Prognose des Statistischen Landesamts Sachsen-Anhalt wird die Bevölkerung im Landkreis Harz bis 2030 um etwa 13,3 Prozent sinken, während gleichzeitig der Anteil älterer Menschen steigt.
Diese Entwicklung ist ein zentraler Treiber für die wachsende Pflegebedürftigkeit. Alter korreliert signifikant mit der Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Das zeigen auch bundesweite Daten des Statistischen Bundesamts, wonach über 80 Prozent der Pflegebedürftigen älter als 65 Jahre sind.
Aktuelle Zahlen für den Landkreis Harz
Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen im Landkreis Harz steigt kontinuierlich. Laut einer aktuellen Hochrechnung auf Basis von Daten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) betrug die Pflegeprävalenz in der Region im Jahr 2023 rund 12,7 Prozent – das ist deutlich über dem demografisch erwarteten Wert von 7,9 Prozent.
In absoluten Zahlen bedeutet dies etwa 20.600 bis 21.000 pflegebedürftige Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 221.000 Einwohnern. Damit liegt der Landkreis Harz über dem Landesdurchschnitt Sachsen-Anhalts, was auf strukturelle Besonderheiten hinweist.
Ambulante und stationäre Versorgung
Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen erfolgt in Deutschland traditionell überwiegend im häuslichen Umfeld. Dies gilt auch für den Landkreis Harz. Laut regionalem Pflegebericht aus dem Jahr 2011 wurden damals rund 37,4 Prozent der Pflegebedürftigen ausschließlich durch Angehörige versorgt. Weitere 32,1 Prozent nutzten ambulante Pflegedienste. Etwa 30,5 Prozent lebten in stationären Pflegeeinrichtungen.
Neuere Erhebungen zeigen eine leichte Verschiebung hin zu mehr stationären Leistungen, was insbesondere auf die höheren Pflegegrade und die Zunahme kognitiver Erkrankungen (z. B. Demenz) zurückzuführen ist.
Ursachen des überproportionalen Anstiegs
Fachlich diskutiert wird, warum die Pflegeprävalenz in der Region Harz deutlich über dem demografisch erklärbaren Niveau liegt. Studien des AOK-Pflegereports 2024 legen nahe, dass strukturelle Faktoren eine Rolle spielen:
- Frühere Renteneintritte und eine insgesamt gesundheitlich belastete Bevölkerung (z. B. hohe Herz-Kreislauf-Morbidität)
- Hohe Zahl an Alleinlebenden im Alter, was die stationäre Versorgung wahrscheinlicher macht
- Pflegekulturelle Unterschiede, wie geringere Inanspruchnahme informeller Pflege durch Familie
Zudem wird diskutiert, inwieweit die Reform der Pflegegrade ab 2017 statistische Zuwächse erzeugt hat, da sie mehr Menschen mit kognitiven Einschränkungen erfasst als das frühere System.
Fachkräftemangel als strukturelles Risiko
Ein zentrales Problem in der Region ist der Fachkräftemangel. Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gehen davon aus, dass allein in Sachsen-Anhalt bis 2035 rund 25 Prozent mehr Pflegekräfte benötigt werden. In ländlichen Regionen wie dem Harz ist die Fachkräftebasis jedoch dünn, und viele ambulante Dienste arbeiten am Limit.
Hinzu kommt: Der Pflegeberuf leidet unter geringer Attraktivität, hoher physischer Belastung und einer niedrigen gesellschaftlichen Anerkennung. Lösungsansätze wie bessere Vergütung, familienfreundlichere Arbeitszeiten und gezielte Ausbildungsprogramme greifen bislang nicht flächendeckend.
Technologische Innovationen: Chance oder Illusion?
Im Rahmen der Strukturwandel-Förderung wurden auch in Sachsen-Anhalt digitale Pilotprojekte gestartet, um Pflege und Beratung zu verbessern. Dazu gehören digitale Pflegeplattformen, Telemedizin-Module und soziale Assistenzsysteme.
Ob solche Lösungen in strukturschwachen Regionen wie dem Harz flächendeckend wirksam sein können, ist jedoch offen. Experten mahnen, dass Digitalisierung nicht die strukturellen Probleme (z. B. fehlendes Personal oder Mobilität) kompensieren kann, sondern nur ergänzend funktioniert.
Ein aktueller Bericht des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt beleuchtet die Chancen und Grenzen dieser Ansätze im ländlichen Raum: zur Quelle.
Beratung und Erreichbarkeit: Defizite trotz Struktur
Trotz eines dichten Netzes an Pflegeberatungsstellen im Landkreis Harz zeigen Studien, dass die Inanspruchnahme häufig erst im Akutfall erfolgt. So gaben 77,3 Prozent der Befragten an, Pflegeberatung erstmals in Anspruch genommen zu haben, als ein akuter Pflegefall eingetreten war (z. B. nach einem Schlaganfall oder Unfall).
Zudem bestehen trotz guter Erreichbarkeit (99 Prozent der Beratungsstellen sind fußläufig erreichbar) Barrieren: mangelnde Transparenz über Angebote, Überforderung der Angehörigen und sprachlich-kulturelle Hürden.
Gesellschaftlicher Ausblick und politische Diskussion
Die Frage, wie Pflege in der Region Harz zukunftsfähig organisiert werden kann, ist Gegenstand kontroverser Debatten. Diskutiert werden:
- Pflegeversicherung auf neue Füße stellen (Stichwort: Bürgerversicherung)
- Konzepte gemeinschaftlicher Pflegewohnen-Modelle für ländliche Räume
- Entlastung pflegender Angehöriger durch Geld- und Zeitbudgets
Auch ethische Fragen treten stärker in den Vordergrund: Wie viel Technik ist vertretbar? Wer entscheidet über stationäre Aufnahme? Und wie können soziale Isolation und Vereinsamung im Alter verhindert werden?
Ein aktueller Themenreport der Bertelsmann Stiftung zeigt konkrete Szenarien für die Pflegeversorgung bis 2030 auf: zum Report.
Fazit: Pflege im Harz braucht integrierte Lösungen
Die Zahl der Pflegebedürftigen in der Region Harz ist nicht nur ein Abbild des Alterns, sondern Ausdruck komplexer sozialer, gesundheitlicher und struktureller Faktoren. Die Versorgungslage ist angespannt, das Personal knapp, und die familiären Netzwerke schwinden.
Pflege muss regional gedacht werden – mit intelligenten Konzepten, stärkerer Verschränkung von ambulanter und stationärer Versorgung, gezieltem Technikeinsatz und politischer Aufmerksamkeit für die spezifischen Bedarfe des ländlichen Raums.
Weitere Informationen bietet das Statistische Bundesamt auf seiner Themenseite “Pflege”: Statistikportal.