
Der Beschluss: Zwei Kitas schließen – aus wirtschaftlichen Gründen
Die Stadt Osterwieck im Landkreis Harz hat im Juni eine Entscheidung gefällt, die weitreichende Konsequenzen für Familien in den Ortsteilen Bühne und Rohrsheim hat: Beide dortigen Kindertagesstätten sollen zum Jahreswechsel 2024/2025 schließen. Als Hauptgründe wurden dramatisch gesunkene Kinderzahlen und eine angespannte Haushaltslage genannt. In Bühne etwa besuchten zuletzt nur fünf Kinder die Einrichtung – bei einem Personalaufwand von vier Vollzeitkräften. Ein Missverhältnis, das aus Sicht der Stadtverwaltung nicht mehr tragbar sei.
Bürgermeister Dirk Heinemann sprach in der Sitzung von einer notwendigen Maßnahme zur Haushaltskonsolidierung. Die Stadt rechnet mit Einsparungen in Höhe von rund 215.000 Euro pro Kita und Jahr – also etwa 430.000 Euro jährlich.
Starker Protest: Eltern, Kinder und Bürger wehren sich
Die Entscheidung traf auf entschlossenen Widerstand. Mehr als 2.000 Bürger unterzeichneten ein Bürgerbegehren gegen die Schließung – doppelt so viele wie nötig. Zusätzlich riefen engagierte Eltern eine Online-Petition ins Leben, die binnen weniger Wochen über 1.100 Mitzeichnungen erreichte.
Bei Stadtratssitzungen kam es zu lautstarken Protesten. Eltern trugen Plakate, Kinder hielten selbstgemalte Schilder mit der Aufschrift „Bitte schließt unsere Kita nicht!“. Eine Mutter sagte in der Sitzung: „Was sagen wir unseren Kindern, wenn sie fragen, warum ihr Zuhause kein Platz mehr für sie hat?“
Doch der Stadtrat blieb bei seiner Linie – das Bürgerbegehren wurde formaljuristisch als unzulässig eingestuft.
Die 29 Vorschläge der Elterninitiative
Besonders bemerkenswert ist der Einsatz der Elterninitiative, die nicht nur protestierte, sondern der Stadtverwaltung ein ganzes Maßnahmenpaket zur Einsparung vorlegte. In einem Katalog mit 29 Vorschlägen präsentierten die Initiatoren unter anderem:
- Einführung digitaler Aktenführung zur Verwaltungsoptimierung
- Einrichtung kostenpflichtiger Parkzonen im Stadtkern
- Temporäre Schließung kommunaler Museen in den Wintermonaten
- Moderat erhöhte Kita-Gebühren für Besserverdienende
- Stopp von geplanten freiwilligen Investitionen in Sportstätten
Die Vorschläge wurden zur Kenntnis genommen – eine detaillierte Prüfung oder Umsetzung erfolgte jedoch bislang nicht.
Juristische und politische Spannungen
Die Entscheidung hat auch eine juristische Komponente. Vertreter der Elternschaft reichten Beschwerde bei der Kommunalaufsicht ein – wegen angeblich mangelhafter Transparenz und formaler Fehler bei der Abstimmung. Zudem sei das Bürgerbegehren laut Gegengutachten durchaus zulässig gewesen.
Ein Krisentreffen zwischen Elternvertretern, Verwaltung und Teilen des Stadtrats Anfang Mai brachte keine Einigung. Die Positionen blieben verhärtet: Sparzwang versus Bildungsauftrag.
Einordnung in den ostdeutschen Kontext: Ein Trend mit Folgen
Osterwieck steht mit seinem Problem nicht allein da. In vielen ländlichen Regionen Ostdeutschlands sinken die Kinderzahlen rapide. In Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern wurden in den letzten Jahren ähnliche Entscheidungen getroffen. Kommunen sehen sich gezwungen, Kitas mit geringer Auslastung zu schließen – oft zum Unmut der betroffenen Familien.
Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft mahnt jedoch: Diese Entwicklung birgt Risiken. Denn der Rückzug von Infrastruktur – insbesondere frühkindlicher Bildungseinrichtungen – verschärft die soziale Ungleichheit und kann langfristig zur Abwanderung junger Familien führen.
Statistik: Kinderzahlen in Ostdeutschland rückläufig
Bundesland | Geburtenrate 2023 (pro 1.000 Einwohner) | Trend seit 2015 |
---|---|---|
Sachsen-Anhalt | 7,4 | –18 % |
Thüringen | 7,6 | –16 % |
Brandenburg | 8,1 | –12 % |
Die soziale Dimension: Wer leidet besonders?
Die Auswirkungen der Schließungen treffen nicht alle gleichermaßen. Besonders betroffen sind:
- Alleinerziehende, die auf wohnortnahe Betreuung angewiesen sind
- Familien ohne eigenes Auto, die keine Kita im Nachbarort erreichen
- Berufstätige mit Schichtarbeit, für die flexible Betreuungszeiten entscheidend sind
Experten warnen: Der Wegfall von Betreuungseinrichtungen kann Erwerbsbiografien unterbrechen, Armut verschärfen und die Bildungschancen von Kindern langfristig negativ beeinflussen.
Kita als sozialer Ort
Kitas sind mehr als nur Betreuungseinrichtungen. Sie sind Orte des Lernens, der Integration und der frühkindlichen Förderung. Studien belegen, dass gerade in den ersten Lebensjahren Bildungsimpulse entscheidend sind – besonders für Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Der Wegfall solcher Impulse kann durch keinen familiären Ausgleich kompensiert werden.
Vertrauen verloren: Die symbolische Kraft der Entscheidung
Die Schließung der Kitas in Osterwieck hat nicht nur eine sachliche, sondern auch eine symbolische Wirkung. Viele Eltern fühlen sich übergangen, missachtet und politisch entmündigt. Das Zitat einer Bürgerin bringt es auf den Punkt: „Man hat das Gefühl, wir kämpfen gegen eine Wand – dabei geht es um unsere Kinder.“
Auch das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Stadtverwaltung hat gelitten. Die Art und Weise der Entscheidungsfindung – trotz Bürgerbegehren, trotz Elternprotest, trotz Alternativvorschlägen – wurde vielfach als undemokratisch kritisiert.
Was bleibt? Ein Riss durch die Gemeinschaft
Zum Jahreswechsel werden die Kitas in Bühne und Rohrsheim ihre Türen schließen – trotz aller Bemühungen, sie zu retten. Die Stadt wird Geld sparen, doch die sozialen Kosten sind kaum bezifferbar. Zurück bleibt ein Riss in der Gemeinschaft. Und die Frage, wie eine Stadt es schaffen kann, sich zukunftssicher aufzustellen, ohne ihre jüngsten Bürgerinnen und Bürger zu verlieren.
Die Eltern wollen weiterkämpfen – mit juristischen Mitteln, mit öffentlichen Aktionen und mit der Hoffnung, dass politische Entscheidungen künftig wieder gemeinsam mit den Menschen getroffen werden. Denn eines hat die Debatte in Osterwieck deutlich gemacht: Kita-Schließungen sind mehr als Haushaltsentscheidungen. Sie sind ein Lackmustest für den sozialen Zusammenhalt im ländlichen Raum.