
Dessau-Roßlau – Mit bedrückender Stille begann am 15. August 2025 vor dem Landgericht Dessau-Roßlau ein Prozess, der weit über die Grenzen Sachsen-Anhalts hinaus für Aufsehen sorgt. Eine 30-jährige Mutter aus Wittenberg steht unter dem Verdacht, ihre neugeborenen Zwillinge nach der Geburt nicht versorgt zu haben, was zu deren Tod führte. Der Fall wirft Fragen auf – nicht nur nach den juristischen Konsequenzen, sondern auch nach gesellschaftlichen Hintergründen, Hilfsangeboten und den Ursachen, die zu einer solchen Tragödie führen können.
Der Tatvorwurf: Totschlag durch Unterlassen
Die Staatsanwaltschaft wirft der Angeklagten vor, ihre beiden Töchter unmittelbar nach der Geburt im November 2024 nicht mit der notwendigen medizinischen Hilfe versorgt zu haben. Die Mädchen seien lebensfähig gewesen, so das Ergebnis der Obduktion, und starben durch Sauerstoffmangel. Gefunden wurden sie von der Großmutter der Angeklagten – verpackt in Müllsäcken in der Badewanne der Wohnung in der Collegienstraße in Wittenberg.
Juristisch wird der Vorwurf als Totschlag durch Unterlassen bezeichnet. Dieser Straftatbestand liegt vor, wenn eine Person, die rechtlich verpflichtet ist zu handeln, dies unterlässt und dadurch den Tod eines anderen verursacht. Im vorliegenden Fall bedeutet das: Die Mutter hätte die Pflicht gehabt, bei der Geburt für ärztliche Hilfe zu sorgen oder den Notruf zu wählen.
Eine Mutter im Zentrum der Ermittlungen
Die Angeklagte gab zu Beginn des Prozesses an, sich an das Geschehen nicht erinnern zu können. Sie erklärte unter Tränen: „Es tut mir unsäglich leid.“ Ihren beiden verstorbenen Töchtern hatte sie Namen gegeben: Clara und Hannah. Im Gerichtssaal berichtete sie zudem von einer jahrelangen Abhängigkeit von Crystal Meth und schilderte eine psychische Ausnahmesituation.
Aus den Aussagen ging hervor, dass sie in der Vergangenheit bereits drei weitere Schwangerschaften verheimlicht hatte: Zwei Kinder leben bei ihr, ein weiteres Kind brachte sie im Krankenhaus zur Welt und gab es zur Adoption frei. Dieser Hintergrund wirft auch die Frage auf, ob mangelnde Unterstützung oder soziale Isolation zu wiederholten Verheimlichungen geführt haben könnten.
Warum konnte sich die Angeklagte nicht erinnern?
Die Kombination aus Drogenkonsum, psychischer Belastung und dem stressreichen Verlauf einer Geburt kann zu Erinnerungslücken führen. Die Angeklagte begründete ihre fehlende Erinnerung unter anderem mit dem jahrelangen Methamphetaminkonsum, der ihre Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigt habe.
Der Prozessverlauf und geplante Termine
Der Prozessauftakt fand in einem voll besetzten Saal statt, auch der Vater der Kinder war anwesend. Seine Aussage ist für den zweiten Prozesstag terminiert. Insgesamt sind acht Verhandlungstage bis Ende September angesetzt. Neben Zeugenaussagen werden medizinische Gutachten und psychiatrische Bewertungen eine zentrale Rolle spielen.
Warum beginnt ein solcher Prozess oft Monate nach der Tat?
Viele fragen sich, warum der Prozess erst neun Monate nach dem Tod der Zwillinge startete. Der Grund liegt in der umfangreichen Ermittlungsarbeit: Obduktionen, Spurenauswertungen, psychiatrische Begutachtungen und die Fertigstellung der Anklageschrift nehmen Zeit in Anspruch. Erst wenn alle Ermittlungsunterlagen vollständig vorliegen, kann das Gericht den Prozess terminieren.
Rechtlicher Rahmen: Neonatizid und seine Einordnung
In Deutschland gibt es keinen speziellen Straftatbestand mehr für die Tötung eines Neugeborenen durch die Mutter, wie es bis 1998 der Fall war (§ 217 StGB a.F.). Heute wird ein solcher Fall unter den Paragraphen für Totschlag (§ 212 StGB) oder in besonders gelagerten Fällen als minder schwerer Fall (§ 213 StGB) behandelt. Der Strafrahmen reicht von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.
Statistische Einordnung
Kindstötungen unmittelbar nach der Geburt – medizinisch und juristisch als Neonatizid bezeichnet – sind in Deutschland selten, aber dokumentiert. Laut kriminalstatistischer Auswertungen gab es im Jahr 2020 bundesweit 152 Kindstötungen, davon 30 Fälle von Neonatizid. Fachleute gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl etwas höher liegen könnte, da nicht alle Fälle zweifelsfrei erfasst werden.
Soziale und psychologische Hintergründe
Studien und Erfahrungsberichte zeigen, dass Neonatizide häufig durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren entstehen: soziale Isolation, verheimlichte Schwangerschaft, psychische Belastung und in manchen Fällen Substanzmissbrauch. Die Angeklagte gab selbst an, keinerlei Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen zu haben, obwohl sie von der Schwangerschaft wusste.
Ein besonderes Problem: Frauen in Krisensituationen nutzen bestehende Hilfsangebote wie Babyklappen oder vertrauliche Geburten oft nicht – sei es aus Angst, Scham oder Unwissenheit. Sozialverbände betonen immer wieder, dass die Nummer des Hilfetelefons „Schwangere in Not – anonym und sicher“ (0800 40 40 020) rund um die Uhr erreichbar ist.
Lokale Reaktionen und Trauerkultur
In Wittenberg löste der Fund der toten Zwillinge Bestürzung aus. Die Mädchen wurden anonym beigesetzt – eine Entscheidung, die in sozialen Medien und lokalen Gruppen kontrovers diskutiert wurde. In der Region gibt es Initiativen wie „Sternenkinder Dessau e. V.“, die sich um die Beisetzung und Begleitung von Familien nach Perinatalverlusten kümmern. Mehrmals im Jahr finden dort Sammelbestattungen statt, an denen Angehörige in stiller Gemeinschaft Abschied nehmen können.
Fragen aus der Öffentlichkeit – und ihre Antworten
Was bedeutet ‘Totschlag durch Unterlassen’ genau?
Der Begriff beschreibt, dass eine Person – hier die Mutter – eine rechtliche Pflicht zur Handlung hatte, diese aber nicht erfüllt hat, wodurch der Tod eines anderen Menschen eintrat. Im Kontext einer Geburt bedeutet dies, keine medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, obwohl das Kind lebensfähig war.
Wer war bei der Entdeckung der toten Babys anwesend?
Die Leichen der Zwillinge wurden von der Großmutter der Angeklagten gefunden, als sie in der Wohnung Kleidung holen wollte. Die Mutter befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Krankenhaus. Die Großmutter alarmierte sofort die Polizei.
Wie wurden die Zwillinge beigesetzt?
Die Mädchen wurden anonym beigesetzt. Solche Beisetzungen werden in Deutschland häufig gewählt, wenn keine persönlichen Angaben im Grab erfolgen sollen oder wenn die Familie eine stille, öffentliche Aufmerksamkeit vermeidende Abschiednahme wünscht.
Gesellschaftlicher Kontext: Kindeswohlgefährdung in Deutschland
Kindstötung ist die extremste Form einer Kindeswohlgefährdung, doch Vernachlässigung ist weitaus häufiger. Laut aktuellen Jugendamtsmeldungen machen Vernachlässigungsfälle mehr als 59 Prozent aller festgestellten Gefährdungen aus. Risikofaktoren sind unter anderem Sucht, Armut, psychische Erkrankungen und fehlende soziale Netzwerke.
Fachleute fordern daher eine bessere Verzahnung von Gesundheits-, Sozial- und Polizeistatistiken, um Prävention wirksamer zu gestalten. Auch die öffentliche Bekanntheit von Hilfsangeboten müsse gestärkt werden.
Der Diskurs in sozialen Medien und Foren
Auf Plattformen wie X und in Facebook-Gruppen der Region Wittenberg wurde der Fall intensiv diskutiert. Viele Beiträge drücken Trauer und Unverständnis aus, andere verweisen auf die Notwendigkeit besserer Präventionsangebote. In Foren wie dem ELO-Forum tauchten bereits kurz nach Bekanntwerden der Tat Spekulationen und Diskussionen über rechtliche Begriffe wie „Tötung durch Unterlassen“ auf – oft noch vor gesicherten Fakten.
Prävention und Hilfsangebote
Das Konzept der vertraulichen Geburt ermöglicht es Schwangeren, ihr Kind sicher in einer Klinik zur Welt zu bringen, ohne persönliche Daten preiszugeben. Die Adoption wird vorbereitet, während die Identität der Mutter geschützt bleibt. Babyklappen bieten zudem die Möglichkeit, ein Neugeborenes anonym und sicher abzugeben. Diese Angebote sind in Deutschland vorhanden, werden aber nur selten genutzt.
Ausblick auf die nächsten Prozesstage
Der Prozess wird in den kommenden Wochen fortgesetzt. Neben dem Vater der Kinder sollen auch medizinische Sachverständige und Mitarbeiter des Jugendamtes aussagen. Ziel ist es, die genauen Abläufe in den Stunden der Geburt zu rekonstruieren und mögliche psychische oder drogenbedingte Einflüsse auf das Handeln der Mutter zu bewerten.
Ein Fall, der bewegt – weit über den Gerichtssaal hinaus
Dieser Prozess ist mehr als ein strafrechtliches Verfahren. Er lenkt den Blick auf gesellschaftliche Verantwortung, auf den Schutz von Neugeborenen und die Unterstützung von Müttern in Ausnahmesituationen. Die Geschichte von Clara und Hannah wird nicht nur in Wittenberg in Erinnerung bleiben. Sie steht sinnbildlich für die tragischen Konsequenzen, wenn Hilfen nicht in Anspruch genommen werden – und für die Fragen, die uns als Gesellschaft wachrütteln sollten.