
Ein Abend im Dezember: Die Chronologie des Anschlags
Am 20. Dezember 2024 ereignete sich auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt einer der verheerendsten Anschläge der jüngeren deutschen Geschichte. Der Täter, Taleb al‑Abdulmohsen, ein saudi-arabischer Facharzt für Psychiatrie, steuerte einen BMW mit hoher Geschwindigkeit über einen als Rettungsweg vorgesehenen Zugang direkt in das Besucherareal. Die Fahrt dauerte rund 15 Sekunden, verlief etwa 300 Meter durch das Marktgelände und hinterließ ein Bild der Zerstörung: Sechs Menschen verloren ihr Leben, darunter ein Kind. 323 Menschen wurden verletzt, darunter 52 Kinder. Zusätzlich mussten über 230 Personen psychologisch betreut werden.
Die Tat erschütterte nicht nur die Stadt, sondern auch die Republik. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „unsäglichen Tat“, während in Magdeburg Schweigemärsche und Gedenkveranstaltungen abgehalten wurden. Zugleich wurden aber auch kritische Fragen laut: Wie konnte es so weit kommen? Warum wurden Warnungen nicht ernst genommen? Und welche Rolle spielten Polizei und Stadtverwaltung?
Warnsignale, die nicht gehört wurden
Wie sich später herausstellte, lagen bereits im Vorfeld mehrere Hinweise vor, die auf die Gefährlichkeit des Täters hinwiesen. Besonders brisant: Saudi-Arabien hatte in drei voneinander unabhängigen Meldungen auf al‑Abdulmohsen als potenzielle Gefahr hingewiesen. Auch innerhalb Deutschlands gab es Hinweise: So meldeten Privatpersonen, Bekannte und sogar Kolleginnen in seiner Klinik in Bernburg auffälliges Verhalten – darunter Gewaltandrohungen und extreme politische Aussagen.
„Wir wussten nicht, wer unter uns lebt“ – dieser Satz eines Polizisten wurde sinnbildlich für das, was in den darauffolgenden Tagen als organisierte Verantwortungslosigkeit kritisiert wurde.
Fehlende Einordnung: Behörden stuften Täter als ungefährlich ein
Trotz der Hinweise stuften sowohl das LKA Sachsen-Anhalt als auch das BKA den Täter im Jahr 2023 als „nicht konkret gefährlich“ ein. Eine konkrete Überwachung oder eine Platzierung auf einer Gefährderliste unterblieb. Auch eine Anzeige wegen Bedrohung und Körperverletzung führte nicht zu weiterführenden Maßnahmen.
Sicherheitslücken mit tödlichen Folgen
Eine zentrale Frage, die sich viele Bürger stellen: Wie konnte der Täter mit einem Fahrzeug ungehindert in den Weihnachtsmarkt gelangen? Die Antwort offenbart ein gravierendes Sicherheitsversagen: Zwar war der Rettungsweg durch Betonblöcke gesichert – allerdings fehlte die notwendige Sicherungskette, die die Zufahrt verhindert hätte.
Ein Polizeifahrzeug, das als mobile Absperrung dienen sollte, stand nicht wie vorgesehen vor dem Zugang, sondern etwa 30 Meter entfernt. Warum es dort abgestellt war, ist bis heute unklar. Auch die Zuständigkeit für das Anbringen der Kette war laut Untersuchungsakten nicht eindeutig geregelt – eine absurde Schwäche in einem Sicherheitskonzept für eine Großveranstaltung mit Tausenden Besuchern täglich.
Stimmen aus der Bevölkerung und den Einsatzkräften
In den Kondolenzbüchern der Stadt drücken Menschen nicht nur ihre Trauer aus, sondern auch Wut: „Ich bin fassungslos. Das hätte verhindert werden können“, schreibt eine Bürgerin. Ein anderer Besucher des Markts berichtet, dass er wenige Minuten vor dem Anschlag mit seiner Familie über denselben Rettungsweg ging – „ohne eine Spur von Kontrolle oder Absicherung“.
Die Psyche des Täters – ein undurchsichtiges Profil
Was war das Motiv des Attentäters? Diese Frage beschäftigt auch Monate nach der Tat noch Polizei und Öffentlichkeit. Taleb al‑Abdulmohsen war kein klassischer Islamist. Im Gegenteil: In sozialen Medien positionierte er sich explizit islamkritisch, half sogar Frauen, aus Saudi-Arabien zu fliehen. In Deutschland arbeitete er im Maßregelvollzug – ironischerweise in der psychiatrischen Betreuung von Straftätern.
Immer mehr Hinweise deuten jedoch auf eine psychische Instabilität hin. Kollegen berichteten von narzisstischen Zügen, Misstrauen gegenüber Behörden und wiederholten Ausrastern im Klinikalltag. Ein Verfahren zur Entziehung seiner Approbation war bereits eingeleitet. Eine Psychologin, die anonym bleiben möchte, erklärt: „Es gibt Täter, deren ideologisches Profil sekundär ist – der eigentliche Motor ist der psychische Zustand.“
Was hat die Polizei über Warnungen vor dem Täter bestätigt?
Die Polizei bestätigte die Existenz mehrerer Hinweise, darunter jene aus Saudi-Arabien. Dennoch habe es an einer zentralen Bewertung der Gefahrenlage gefehlt. Ein Sprecher erklärte später: „Die Informationen wurden bearbeitet – aber ohne gemeinsamen Datenraum geht vieles unter.“
Desinformation und Hetze in sozialen Netzwerken
Nur Minuten nach dem Anschlag kursierten in sozialen Netzwerken bereits Falschmeldungen: Der Täter sei Islamist, habe „Allahu Akbar“ gerufen, sei Syrer. Keines dieser Gerüchte entsprach der Wahrheit. Dennoch verbreiteten sich diese Narrative rasant – vor allem in einschlägigen Telegram-Gruppen, auf TikTok und YouTube.
Auch eine perfide Verschwörungstheorie machte schnell die Runde: Der Anschlag sei inszeniert, um „bürgerliche Freiheiten weiter einzuschränken“. Solche Behauptungen wurden durch Faktenchecks entkräftet, doch ihre Verbreitung zeigt, wie anfällig die Gesellschaft in Krisensituationen für gezielte Desinformation ist.
Reaktionen von Politik und Gesellschaft
Innenministerin Tamara Zieschang räumte am Tag nach dem Anschlag öffentlich ein: „Es hat Fehler gegeben. Und wir müssen diese aufarbeiten.“ Bundeskanzler Scholz forderte: „Jeder Stein muss umgedreht werden.“
Im Bundestag wurde der Fall zur politischen Debatte: Die Opposition sprach von einem „Systemversagen“, Vertreter der Grünen warnten vor voreiligen Gesetzesverschärfungen, während CDU-Politiker Friedrich Merz schärfere Abschieberegeln für potenzielle Gefährder forderte – auch ohne Verurteilung.
Wie viele Menschen wurden bei der Amokfahrt verletzt?
Insgesamt wurden 323 Menschen verletzt. Darunter waren 52 Kinder. Zudem mussten mehr als 230 Personen psychologisch betreut werden – viele davon kämpfen noch heute mit den Folgen.
Die Rolle der Plattformen – Zensur oder Schutz?
Auffällig war auch das Verhalten großer Plattformen: TikTok deaktivierte kurzzeitig die Suchfunktion für Begriffe rund um den Anschlag. Offiziell, um die Verbreitung von grausamen Bildern und Falschinformationen einzudämmen. Kritiker sahen darin jedoch eine problematische Form der Inhaltskontrolle.
„Es darf nicht sein, dass Plattformen willkürlich steuern, welche Inhalte sichtbar sind – auch wenn der Schutzgedanke nachvollziehbar ist“, erklärte ein Netzpolitiker in einem Interview. Gleichzeitig zeigten sich die sozialen Medien als Spiegel der gesellschaftlichen Zerrissenheit: Zwischen Mitgefühl und politischer Radikalisierung lagen oft nur wenige Klicks.
Aufarbeitung und juristische Konsequenzen
Die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg ermittelt in mehrere Richtungen: gegen Stadtverwaltung, Polizeieinheiten und auch gegen Einzelpersonen, die möglicherweise für die fehlende Sicherheitskette verantwortlich sind. Auch der Landtag von Sachsen-Anhalt hat einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, der seit Februar 2025 tätig ist.
Gibt es Hinweise auf psychische Erkrankungen beim Täter?
Ja. Zahlreiche Hinweise belegen, dass Taleb al‑Abdulmohsen unter erheblichen psychischen Belastungen stand. Der Entzug seiner ärztlichen Approbation war in Vorbereitung, und aus seiner Arbeit im Maßregelvollzug liegen Berichte über auffälliges Verhalten vor.
Ein kollektives Trauma mit offenen Fragen
Der Anschlag von Magdeburg hinterlässt nicht nur Wunden auf dem Weihnachtsmarkt, sondern auch in den Köpfen und Herzen der Menschen. Die Fragen bleiben: Wie konnte ein Mann mit solchen Auffälligkeiten jahrelang unbehelligt leben? Warum war ein Rettungsweg offen, obwohl die Sicherheitslage auf Weihnachtsmärkten seit Jahren als kritisch gilt? Und wie kann eine Gesellschaft künftig solchen Taten vorbeugen – ohne in Angst und Kontrolle zu erstarren?
Magdeburg trauert. Doch mehr noch: Die Stadt verlangt Antworten. Und mit ihr ein ganzes Land.