
Wernigerode – Zwischen Fachwerkromantik, Touristenandrang und leerstehenden Schaufenstern kämpft die bunte Stadt am Harz um die Zukunft ihrer Innenstadt. Neue Konzepte, Bürgerinitiativen und gezielte Fördermaßnahmen sollen dem Ladensterben entgegenwirken und dem stationären Handel wieder Leben einhauchen.
Eine Innenstadt voller Geschichte – aber mit Lücken
Wernigerode gilt als eine der beliebtesten Tourismusstädte im Harz. Über eine Million Übernachtungen im Jahr belegen das eindrucksvoll. Doch hinter der idyllischen Fassade brodelt es: In den letzten sieben Jahren haben mehr als 50 Geschäfte in der Innenstadt ihre Türen für immer geschlossen. Besonders auffällig ist der Zustand der Altstadt-Passagen – hier stehen nahezu 50 % der Verkaufsflächen leer.
Während sich die Besucher durch die kopfsteingepflasterten Straßen schieben, berichten Einzelhändler von sinkender Kaufkraft, stagnierender Laufkundschaft und unzureichender Sichtbarkeit. Der Widerspruch könnte kaum größer sein: Touristenströme auf der einen Seite, leere Schaufenster auf der anderen.
Was steckt hinter dem Ladensterben in Wernigerode?
Mehrere Ursachen wirken gleichzeitig
Die Gründe für den Rückgang des Einzelhandels in Wernigerode sind komplex und vielschichtig. Einige der zentralen Faktoren sind:
- Hohe Betriebskosten: Steigende Mieten, Energiepreise und Abgaben setzen vor allem kleineren Geschäften wirtschaftlich zu.
- Online-Konkurrenz: Immer mehr Kunden weichen auf bequeme Bestellungen im Internet aus – auch wenn sie vor Ort sind.
- Demografischer Wandel: Junge Menschen verlassen die Region, ältere Stammkundschaft wird weniger mobil.
- Fehlende Frequenzbringer: Der Verlust großer Filialisten und Cafés wirkt sich negativ auf die gesamte Ladenstraße aus.
Diese Gemengelage führt nicht nur zu Leerstand, sondern auch zu einem schleichenden Vertrauensverlust bei Anwohnern und Investoren.
Gegenmaßnahmen mit Kreativität und Gemeinschaft
„Sommersprossen“ für die Innenstadt
Eine der sichtbarsten Initiativen ist die Aktion „Sommersprossen“: Bunte Holzleitern vor teilnehmenden Geschäften sollen Aufmerksamkeit erzeugen und Passanten animieren, auch kleinere Läden wahrzunehmen. Die Idee entstand in Kooperation zwischen Stadt, Tourismusverband und Kaufmannsgilde und wurde von vielen Ladenbesitzern positiv aufgenommen.
Pop-up-Stores als Testlabore
Ein weiteres Mittel gegen den Leerstand sind Pop-up-Stores. Diese temporären Läden bieten jungen Unternehmerinnen und Unternehmern eine Chance, Konzepte ohne langfristiges Risiko auszuprobieren. Gleichzeitig beleben sie leerstehende Räume und sorgen für frische Impulse.
Flexiblere Öffnungszeiten und Events
Auch auf organisatorischer Ebene tut sich etwas: Bei Events wie dem Schokoladenfestival „ChocolArt“ öffnen viele Geschäfte mittlerweile auch sonntags – mit spürbarem Erfolg. Solche Sonderöffnungen, gekoppelt mit kulturellen Highlights, erhöhen die Verweildauer und stärken das Einkaufserlebnis.
Digitalisierung und Förderung
Um mit der Online-Welt Schritt zu halten, fördert die Stadt gezielt die Digitalisierung im Einzelhandel. Dazu zählen Schulungen für Social-Media-Marketing, die Einführung von Click-&-Collect-Angeboten und der Ausbau lokaler Shopping-Plattformen. Parallel gibt es Unterstützung durch Programme wie „Lebendige Zentren“, das bundesweit Mittel zur Aufwertung von Innenstädten bereitstellt.
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Chancen und Hemmnisse
Wirtschaftskraft ja – Effizienz nein
Statistisch gesehen ist Wernigerode eine Einkaufsstadt: Mit einer Zentralitätskennziffer von 140 liegt der Umsatz deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt. Dennoch konzentrieren sich rund 80 % der Verkaufsflächen außerhalb der Innenstadt – in Randlagen und Gewerbegebieten.
Eine Tabelle zeigt das Missverhältnis:
Bereich | Verkaufsfläche | Leerstand |
---|---|---|
Innenstadt | ca. 23.000 m² | 7 % |
Altstadt-Passagen | ca. 4.500 m² | 50 % |
Randlagen | über 100.000 m² | < 2 % |
Gemischte Nutzung als Zukunftsmodell
Langfristig setzen Stadtplaner auf Mixed-Use-Konzepte, bei denen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen eng miteinander verbunden sind. So sollen neue Quartiere entstehen, die urbane Vielfalt fördern und junge Familien halten. Auch Wernigerodes Beteiligung am Europan-Wettbewerb zeigt, dass man in der Stadtentwicklung über reine Ladenflächen hinausdenkt.
Bürgerstimmen und lokale Wahrnehmung
In sozialen Medien, Foren und Leserbriefen finden sich zahlreiche Meinungen zur Situation. Während einige die bunten Leitern als „symbolische Kosmetik“ kritisieren, sehen andere darin ein „wichtiges Zeichen für Aufbruch und Farbe in grauer Zeit“.
Ein Nutzer kommentiert:
„Die Idee mit den Pop-ups ist super. Warum nicht gleich ein ganzes Kreativzentrum daraus machen?“
Andere wiederum fordern mehr Investitionen in Aufenthaltsqualität, Sauberkeit und barrierefreie Zugänge – Aspekte, die ebenfalls über Erfolg oder Misserfolg der Innenstadt entscheiden können.
Das Engagement der Stadt: Koordinierte Strategien
Die Stadt Wernigerode zeigt sich in der Bekämpfung des Ladensterbens engagiert und strukturiert. Mit halbjährlichen Foren zum Einzelhandel, Bürgerbeteiligungen und Workshops werden nicht nur Maßnahmen beschlossen, sondern auch gemeinsam reflektiert.
Stadt, Handel und Tourismus als Allianz
Die Zusammenarbeit aller Beteiligten – Stadtverwaltung, Kaufmannsgilde, Wirtschaftsförderung, Tourismusverband – ist einer der größten Stärken in der aktuellen Umbruchsphase. Gemeinsam konnten Maßnahmen initiiert werden, die national Beachtung finden.
Herausforderung im Umland: Der Leerstand kennt keine Grenzen
Auch angrenzende Ortsteile wie Schierke oder Klint kämpfen mit Leerstand – dort betrifft es vor allem Hotelimmobilien und Gastronomieobjekte. Der Leerstand traditionsreicher Gebäude wie dem Hotel Fürst zu Stolberg wirft Fragen nach nachhaltiger Nutzung und Revitalisierung auf.
Longtail-Fragen und Antworten
Warum haben so viele Geschäfte in Wernigerode in den letzten Jahren geschlossen?
Die Ursachen reichen von hohen Kosten und Online-Wettbewerb bis hin zu fehlenden Frequenzbringern und einer älter werdenden Bevölkerung.
Wie hoch ist die Leerstandsquote in der Innenstadt?
Sie liegt in der Innenstadt bei etwa 7 %, in den Altstadt-Passagen sogar bei rund 50 %.
Welche Maßnahmen unternimmt die Stadt?
Pop-up-Stores, flexible Öffnungszeiten, digitale Förderungen, kreative Stadtmöbel (z. B. bunte Leitern) und langfristige Städtebaupläne zählen dazu.
Wie reagieren die Bürgerinnen und Bürger?
Kritisch, aber konstruktiv – viele befürworten kreative Ansätze, wünschen sich jedoch tiefgreifendere strukturelle Veränderungen.
Fazit: Eine Innenstadt im Wandel – mit realen Chancen
Wernigerodes Innenstadt steht vor Herausforderungen, aber auch vor realen Chancen. Die Kombination aus gezielten Sofortmaßnahmen, langfristiger Stadtplanung und dem aktiven Einbezug der Bevölkerung zeigt Wirkung – wenn auch noch zaghaft. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, neue Impulse dauerhaft zu verankern und den Handel als Teil einer lebendigen, vielfältigen Innenstadt zu stärken.
Stadt, Bürger und Händler haben begonnen, gemeinsam an einer neuen Geschichte für Wernigerodes Innenstadt zu schreiben. Und es scheint, als stünde dieses Kapitel unter einem guten Stern – oder zumindest unter einer bunten Leiter.