
In Sachsen-Anhalt wird intensiv über die Zukunft der Abschiebepraxis diskutiert. Die Landesregierung will Ausreisepflichtige künftig in Gewahrsam nehmen, um Rückführungen besser durchsetzen zu können. Während Befürworter von einer dringend nötigen Maßnahme sprechen, warnen Kritiker vor unverhältnismäßigen Eingriffen in die Grundrechte.
Der politische Hintergrund
Warum Sachsen-Anhalt jetzt handelt
In Sachsen-Anhalt gelten aktuell rund 4.700 Menschen als ausreisepflichtig. Viele von ihnen reisen nicht freiwillig aus, sondern tauchen unter oder verzögern das Verfahren. 2024 kam es zu 654 Abschiebungen, ein Anstieg um rund 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Jahr 2025 lag die Zahl bis zum Spätsommer bei etwa 224 Rückführungen. Die Landesregierung sieht sich angesichts dieser Zahlen unter Handlungsdruck.
Innenpolitiker verweisen darauf, dass Sachsen-Anhalt bislang über keine eigene Abschiebungseinrichtung verfügt. Das Land musste auf Plätze in anderen Bundesländern zurückgreifen, was 2024 rund 400.000 Euro kostete. Mit einer eigenen Lösung will man künftig Kosten sparen und unabhängiger agieren.
Das geplante Abschiebungssicherungsgesetz
Das Kabinett in Magdeburg hat ein eigenes Abschiebungssicherungsgesetz beschlossen. Dieses soll den Vollzug von Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft regeln und damit eine landesrechtliche Grundlage schaffen. Ziel ist es, die Durchsetzung der Ausreisepflicht effizienter zu gestalten und dabei Übergangslösungen zu schaffen, bis die neue zentrale Einrichtung in Volkstedt in Betrieb geht.
Die geplanten Einrichtungen
Übergangslösung in Halle
Bis 2027 sollen in Sachsen-Anhalt eigene Abschiebehaftkapazitäten entstehen. Als Übergangslösung wird nun die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ in Halle ins Gespräch gebracht. Dort könnten im Erdgeschoss bis zu zwölf Plätze eingerichtet werden, ausschließlich für Männer. Ein separater Zugang und eigenes Personal sollen sicherstellen, dass keine Vermischung mit regulären Strafgefangenen erfolgt.
Die Kosten für den Umbau werden auf etwa 300.000 Euro geschätzt. Der Umbau könnte innerhalb von fünf Monaten abgeschlossen werden. Diese Zwischenlösung ist notwendig, weil die eigentliche Einrichtung in Volkstedt noch mehrere Jahre Bauzeit benötigt.
Die geplante Abschiebungseinrichtung in Volkstedt
Die zentrale Einrichtung in Volkstedt im Landkreis Mansfeld-Südharz soll Ende 2026 baulich fertiggestellt werden. Nach Ausstattung und IT-Einrichtung könnte sie im Frühjahr 2027 in Betrieb gehen. Geplant sind 30 Plätze, das Investitionsvolumen beträgt rund 37,4 Millionen Euro. Damit will Sachsen-Anhalt eine dauerhafte Lösung schaffen, um künftig nicht mehr auf andere Länder angewiesen zu sein.
Rechtliche Grundlagen und Unterschiede
Ausreisegewahrsam vs. Abschiebungshaft
Viele Bürger fragen: Was ist der Unterschied zwischen Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft in Deutschland? Der Ausreisegewahrsam kann auch ohne Nachweis einer Fluchtgefahr angeordnet werden. Er dient dazu, die Durchführung einer Abschiebung sicherzustellen, ist jedoch zeitlich streng begrenzt. Ursprünglich lag die Grenze bei zehn Tagen, durch neue Gesetzesänderungen könnte sie auf bis zu 28 Tage ausgeweitet werden.
Die Abschiebungshaft hingegen ist rechtlich schärfer geregelt. Sie setzt Fluchtgefahr oder eine erhebliche Gefahr der Vereitelung voraus und kann im Extremfall bis zu 18 Monate dauern. Kritiker bemängeln, dass der Ausreisegewahrsam Unschuldige betreffen könne, weil allein die Vermutung genügt, dass jemand die Abschiebung erschweren könnte.
Rechte der Betroffenen
Ein weiteres wichtiges Thema lautet: Welche Rechte haben Betroffene im Ausreisegewahrsam oder in Abschiebungshaft? Betroffene haben Anspruch auf richterliche Überprüfung, rechtliches Gehör und anwaltliche Vertretung. Seit der Reform des Rückführungsgesetzes ist vorgesehen, dass auch Pflichtanwälte eingesetzt werden können, wenn keine Vertretung vorhanden ist. Dennoch warnen Menschenrechtsorganisationen, dass diese Rechte in der Praxis häufig nicht ausreichend gewährleistet seien.
Kritik und Debatte
Menschenrechtliche Bedenken
Menschenrechtsorganisationen und Experten üben deutliche Kritik. Sie sehen in den Maßnahmen eine unverhältnismäßige Freiheitsentziehung, zumal es oft mildere Mittel gebe, wie etwa Meldepflichten. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte warnt vor verfassungsrechtlichen Problemen. Zitat: „Gesetzliche Maßnahmen dieser Art müssen sehr sorgfältig auf ihre Vereinbarkeit mit Grund- und Menschenrechten geprüft werden.“
Stimmen aus Wissenschaft und Gesellschaft
Studien wie das EMN Working Paper des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigen, dass Abschiebungshaft nur begrenzten Erfolg hat. Häufig ist sie teuer, ineffizient und wird von Gerichten wieder aufgehoben. Der Mediendienst Integration weist zudem darauf hin, dass der Ausreisegewahrsam auf einer schwächeren rechtlichen Basis steht, da keine konkrete Fluchtgefahr nachgewiesen werden muss.
Öffentliche Diskussion in Foren und sozialen Medien
In lokalen Foren und sozialen Medien wird die Debatte sehr emotional geführt. Bürger verweisen auf die historische Bedeutung des Standorts „Roter Ochse“, der zugleich eine Gedenkstätte ist. Sie sehen darin ein sensibles Signal, wenn dort zeitgleich Abschiebehaft stattfinden soll. Andere argumentieren, dass pragmatische Lösungen Vorrang haben müssten, solange die neue Einrichtung noch nicht fertig ist.
Zahlen, Daten und Fakten
Entwicklung der Abschiebungen
Die Abschiebungspraxis in Sachsen-Anhalt lässt sich anhand aktueller Zahlen verdeutlichen:
Jahr | Anzahl Abschiebungen | Freiwillige Ausreisen |
---|---|---|
2023 | ~535 | ca. 470 |
2024 | 654 | 601 |
2025 (bis August) | 224 | – |
Diese Zahlen zeigen, dass zwar mehr Rückführungen stattfinden, jedoch weiterhin viele Verfahren scheitern – häufig, weil Betroffene untertauchen oder keine Haftplätze verfügbar sind.
Bundesweiter Vergleich
Eine weitere Nutzerfrage lautet: Welche Länder oder Bundesländer haben bereits Abschiebungshaftkapazitäten, und wie ist die Situation in Sachsen-Anhalt? Deutschland verfügt über mehrere spezialisierte Einrichtungen, etwa in Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Niedersachsen. Sachsen-Anhalt hingegen musste bisher stets auf externe Plätze zurückgreifen und ist somit im Vergleich klar im Rückstand.
Alternative Maßnahmen
Andere Wege zur Sicherung der Ausreise
Das BAMF weist in seinen Studien auf mögliche Alternativen hin. Dazu gehören:
- Meldeauflagen bei Behörden
- Wohnsitzauflagen
- Kautionen oder Bürgschaften
- Technische Mittel wie elektronische Fußfesseln
Diese Maßnahmen sind in vielen Fällen kostengünstiger und greifen weniger stark in die Grundrechte ein. Dennoch setzen Länder wie Sachsen-Anhalt stärker auf Freiheitsentzug, weil sie davon eine höhere Erfolgsquote erwarten.
Die Debatte um Verhältnismäßigkeit
Frage der Dauer
Eine immer wieder gestellte Frage lautet: Wie lange darf Ausreisegewahrsam maximal angeordnet werden? Die Höchstdauer lag ursprünglich bei zehn Tagen. Mit der geplanten Verlängerung auf bis zu 28 Tage verschärft sich die Debatte. Kritiker befürchten eine Ausweitung des Freiheitsentzugs auf Menschen, die kein Verbrechen begangen haben.
Verfassungsrechtliche Hürden
Ein besonders kritischer Punkt ist die mögliche Abschaffung oder Einschränkung anwaltlicher Vertretung. Das Deutsche Institut für Menschenrechte sieht darin eine Schwächung der Verteidigungsrechte. Auch Juristen warnen, dass die Trennung von Strafgefangenen und Ausreisepflichtigen zwingend gewahrt bleiben muss, um internationale Vorgaben einzuhalten.
Regionale Dimension
Abschiebungen über Leipzig/Halle
Eine Besonderheit in Sachsen-Anhalt ist die Nähe zum Flughafen Leipzig/Halle. Dieser dient regelmäßig als Ausgangspunkt für Abschiebeflüge, auch für andere Bundesländer. Bereits heute werden Personen dorthin gebracht, wenn Abschiebungen kurzfristig umgesetzt werden. Damit besitzt die Region eine wichtige Infrastruktur für Rückführungen, die durch eigene Haftplätze künftig noch effektiver genutzt werden könnte.
Die historische Dimension des „Roten Ochsen“
Der Standort Halle wirft jedoch auch historische Fragen auf. Der „Rote Ochse“ ist nicht nur eine Justizvollzugsanstalt, sondern zugleich eine Gedenkstätte. Während der NS-Zeit und auch in der DDR wurden dort politische Gefangene inhaftiert und hingerichtet. Viele Bürger empfinden es daher als problematisch, diesen Ort erneut für Freiheitsentzug zu nutzen – wenn auch in einem ganz anderen Kontext.
Abschließende Betrachtung
Sachsen-Anhalts Weg zwischen Effizienz und Kritik
Die Pläne Sachsen-Anhalts zur Inhaftierung von Ausreisepflichtigen sind Ausdruck einer bundesweiten Entwicklung: Der Druck, Rückführungen konsequenter durchzusetzen, wächst. Mit dem Bau einer eigenen Abschiebeeinrichtung in Volkstedt und der Übergangslösung in Halle will das Land seine Handlungsfähigkeit stärken. Zahlen zu steigenden Abschiebungen zeigen, dass die Behörden vorankommen – gleichzeitig verdeutlichen Menschenrechtsbedenken, dass der Preis für diesen Fortschritt hoch sein könnte.
Ob die Maßnahmen tatsächlich zu einer effizienteren Migrationspolitik führen oder ob sie letztlich mehr rechtliche Konflikte und gesellschaftliche Spannungen hervorrufen, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass Sachsen-Anhalt mit seinen Plänen ein politisches Signal setzt: Abschiebungen sollen schneller und verbindlicher durchgesetzt werden – auch, wenn das bedeutet, Menschen in Gewahrsam zu nehmen, die keine Straftat begangen haben. Damit steht das Land beispielhaft für die schwierige Balance zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit und dem Schutz individueller Freiheitsrechte.